Wo bleibt der Einsatz der Außenministerin für Julian Assange? Diesen Einsatz hat sie vor Monaten noch selbst gefordert. Jetzt ist sie still geworden.

Von Heribert Prantl, Berlin

Es ist noch nicht so lang her, da haben die Grünen der schwarz-roten Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel „Feigheit“ im Fall Assange vorgeworfen. Das Wort fällt jetzt auf sie zurück. Am 14. September 2021, kurz vor der Bundestagswahl, hat sich die damalige grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock noch vehement für die Freilassung des Whistleblowers und Enthüllungsjournalisten ausgesprochen. Jetzt ist sie Außenministerin; jetzt ist Schweigen im grünen Wald. Baerbock hat zum Amtsantritt eine deutlich hörbare und wertebasierte Außenpolitik angekündigt; aber davon ist bisher im Fall Assange nichts zu hören. Die deutsche Sektion der Schriftstellervereinigung PEN hat daher soeben einen offenen Brief an Baerbock publiziert und sie aufgefordert, den Worten Taten folgen zu lassen.

Julian Assange ist Ehrenmitglied des PEN. Es ist eine Ehre, sich für diesen Mann einzusetzen – ob er einem nun besonders sympathisch ist oder nicht. Es geht nicht um Sympathie. Es geht darum, einem Pionier der digitalen Aufklärung zu helfen. Er ist der Gründer der Internetplattform Wikileaks und er sitzt, nach einem siebenjährigen beengten, bedrängten und belauschten Asyl krank an Leib und Seele, im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh.

Er wird von den USA mit gierigem Ingrimm und wütender Nachhaltigkeit als Verbrecher verfolgt, weil er US-Kriegsverbrechen aufgedeckt und publiziert hat. Das von ihm publizierte Material enthält unter anderem das berüchtigte, schändliche Video aus Bagdad. Es zeigt, wie feixende Piloten eines US-Kampfhubschraubers unschuldige Zivilisten niedermähen, darunter Kinder und zwei Reuters-Journalisten. Die US-Behörden bezeichnen das als „Verbreitung geheimer Informationen“, als „Verschwörung“ und „Spionage“. Aus Aufdeckung wird also Spionage, aus Journalismus wird Verschwörung.

Ein Flüchtling, wie er im Buche steht

Gewiss: Assange ist kein Heiliger; er hat im Aufdeckungsrausch auch viele Fehler gemacht, er hat Materialien ungeprüft veröffentlicht. Und Wikileaks hat auch E-Mails aus der Wahlkampagne Hillary Clintons veröffentlicht, die wohl der russische Gemeindienst gehackt hatte. Trotz aller Kritik, die man an ihm üben kann: Er ist ein Flüchtling, wie er im Buch steht, er ist ein Märtyrer der Aufklärung; der Versuch, ihn zu diskreditieren und zu dämonisieren, ist Teil der politischen Verfolgung.

Seit zehn Jahren versucht er verzweifelt, sich dem Zugriff der Weltmacht zu entziehen – und es gibt immer weniger Hoffnung, dass es gelingt, auch wenn jetzt wohl noch der Supreme Court, das höchste britische Gericht, über die Auslieferung in die USA entscheiden wird; dort erwartet Assange bekanntlich eine Haft bis zum Tod. Julian Assange war ein David, der gegen den Goliath aufstand; jetzt ist er, um es krass zu sagen, ein armes Schwein.

„Wo Gefahr ist“, hat Hölderlin geschrieben, „wächst das Rettende auch.“ Im Fall Assange sieht man vom Rettenden nicht viel. Der Silberstreifen an Hoffnung ist sehr schmal. Er ist deswegen so schmal, weil die Feigheit der westlichen Staaten vor dem amerikanischen Freund groß war und ist. Der Spiegel hat vor Kurzem bei Ministerin Baerbock angefragt, ob sie sich noch für die Freilassung von Assange einsetzen will. Baerbock hat antworten lassen: „Die Zuständigkeit liegt derzeit bei der britischen Justiz.“ Das ist ein schwurbelnder Ablenkungssatz. Die Zuständigkeit für ihre Glaubwürdigkeit und die der Grünen liegt bei ihr selbst.

Die Süddeutsche Zeitung hat 2018 mit Edward Snowden, einem anderen Aufklärer und Opfer von US-Verfolgung, ein Interview in seinem Asyl in Moskau geführt. Snowden hat in diesem Gespräch eine bittere Wahrheit formuliert: „Wenn morgen ein russischer Whistleblower, sagen wir jemand aus der Putin-Regierung, bei Frau Merkel anklopfen würde, sie würde ihn adoptieren. Aber wenn ein US-Whistleblower vor ihrer Haustür auftaucht …“ Snowden hat leider recht. Und bei Annalena Baerbock ist es nicht anders als bei Angela Merkel: Sie würde einen russischen Whistleblower adoptieren und das dann als Ausdruck wertebasierter Außenpolitik preisen. Wenn es um Snowden und Assange geht, werden diese Werte verleugnet. So war es gestern, so ist es heute.

Die Veralltäglichung des Skandalösen

Snowden ist ein Exempel für die Veralltäglichung des Skandalösen: Der Mann, der die globale digitale Inquisition durch US-Geheimdienste aufgedeckt hat, muss seit 2013 im Asyl in Moskau Schutz suchen. Es ist ein bitterer Witz, dass ein Aufklärer ausgerechnet dort Schutz suchen und finden muss, wo alles Mögliche zu Hause ist, nur nicht die Werte der Aufklärung. Snowden hat sich Moskau als Zufluchtsort nicht freiwillig ausgesucht; er strandete dort, als ihm die Amerikaner den Pass entzogen und er deshalb nach einer Zwischenlandung in Moskau nicht mehr weiterkonnte. Als Snowden westliche Länder, unter anderem Deutschland, um Asyl bat, wollte es sich niemand mit den Amerikanern verscherzen. Es gab skurrile diplomatische Eiertänze.

Heinrich August Pierers „Universal-Lexikon“ von 1858 beschreibt, wie so ein Eiertanz funktioniert: Es handelt sich, so heißt es da, um eine Kunstleistung von Artisten, die mit verbundenen Augen zwischen ausgelegten Eiern stolzieren. Der Eiertanz hat seitdem diplomatische Karriere gemacht. Der Umgang mit Snowden und mit Assange sind aktuelle Exempel. Assange und Snowden sind klassische Flüchtlinge wie in den alten Zeiten, als der Flüchtling noch Flüchtling war und nicht „Asylant“; der bat nicht um Asyl, der ging ins Exil. Vor 175 Jahren waren das Leute wie Carl Schurz und Friedrich Hecker, also die Helden der gescheiterten bürgerlich-demokratischen Revolutionen von 1848, die Forty-Eighters, wie man sie in den USA nennt; sie fanden damals in den USA Schutz vor der Verfolgung durch die Fürsten in Deutschland. Snowden und Assange – das sind die Forty-Eighters, die demokratischen Revolutionäre von heute.

Aber das Phlegma der Europäischen Regierungen ist groß; so war das auch, als der Twitterwüstling Donald Trump ankündigte, dass auf Snowden in den USA die Todesstrafe warte. Die EU, die sich stolz „Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit“ nennt, traute und traut sich nicht, Snowden oder Assange irgendeinen Schutz angedeihen zu lassen. Deutschland stand in der Phalanx der Drückeberger stets ganz vorne. Besonders makaber war eine Äußerung des damaligen Justizministers und späteren Außenministers Heiko Maas im Jahr 2014: Er gab damals Snowden den altklug selbstgerechten Rat, dieser sei ja noch jung und sein Leben noch lang, er könne doch nicht ewig Asyl suchen. Also solle er einfach in die USA zurückkehren und sich dem Walten der US-Gewalten anvertrauen. Maas verlangte von Snowden ein Vielfaches des Mutes, den er, Maas, selbst nicht aufbrachte, um sich für Schutz und Sicherheit Snowdens einzusetzen. Reihen sich die Grünen mit Außenministerin Baerbock hier ein, in die Maas-Schlange? Eröffnen sie eine Tanzschule für den Eiertanz? Neue Sprüche, alte Schritte?

Es ist nicht nur der Mensch Assange in Gefahr. Es ist die Pressefreiheit in Gefahr. Wenn Assange an die USA ausgeliefert wird, bricht das dem globalen investigativen Journalismus das Rückgrat.

 


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