Der Gang ans Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe ist der letzte Weg für jene, die an Ungerechtigkeiten leiden. Aber er ist mühsam, die Erfolgsquote bescheiden.
Wenn hierzulande jemand sagt, „dann gehe ich nach Karlsruhe“, ist das nicht wörtlich gemeint. Man meint damit nicht, dass man sich wie der Entertainer Hape Kerkeling zu Fuß auf eine Pilgerreise begibt. Kerkeling machte sich im Jahr 2001 auf nach Santiago de Compostela und schrieb dann ein Buch darüber, das hundert Wochen in den Bestsellerlisten stand. „Ich bin dann mal weg“ heißt das Buch. Auslöser für Kerkelings Entscheidung, auf Wallfahrt zu gehen, war ein Hörsturz gewesen. 31 Tage hat er dann für den Jakobsweg nach Santiago gebraucht.
Karlsruhe ist so etwas wie Santiago de Compostela – ein Sehnsuchtsort
Wenn einer hierzulande sagt, dass er „dann nach Karlsruhe“ geht, muss er sich auf erheblich mehr Zeit einstellen. Der Rechtsweg nach Karlsruhe ist noch mühsamer als der Pilgerweg nach Santiago – aber trotzdem ist er fast so beliebt. In Santiago kommen auch die meisten der Pilger einigermaßen heil an. In Karlsruhe nicht unbedingt – wenn man unter „heil“ einen juristischen Erfolg versteht. Diesen Erfolg haben nur etwa zwei Prozent derer, die diesen Rechtsweg gehen. Auslöser für den Weg nach Karlsruhe sind nicht unbedingt körperliche Leiden, von denen man Heilung, aber durchaus auch Schicksalsschläge, bei denen man sich Hilfe erhofft. Wer sagt, dass er „dann nach Karlsruhe“ geht, der leidet an Ungerechtigkeiten und will, nachdem er bei allen anderen Gerichten erfolglos war, beim Verfassungsgericht das finden, was er für Gerechtigkeit hält.
Zu danken ist den unseligen Notstandsgesetzen
Diesen Weg nach Karlsruhe, den letzten Rechtsweg für die, die echt oder eingebildet an Ungerechtigkeiten leiden, gilt es in dieser Woche zu feiern. Die Verfassungsbeschwerde hat nämlich Jubiläum – am 29. Januar 1969 wurde sie im Grundgesetz verankert. Das ist am kommenden Dienstag genau fünfzig Jahre her. Es gab die Verfassungsbeschwerde zwar auch schon vorher, aber nur, wie Juristen sagen „einfachrechtlich“ eingeführt, im Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Die hohen Weihen des Grundgesetzes hat sie jetzt seit einem halben Jahrhundert. Zu verdanken ist das den damals ungeheuer umstrittenen Notstandsgesetzen, die seinerzeit noch sehr viel mehr SchülerInnen und StudentInnen auf die Straße trieben als dies heute die Klimakatastrophe tut.
Die Proteste gegen die Notstandsgesetze hatten damals zur Folge, dass zum Ausgleich für diese Gesetze das Widerstandsrecht ins Grundgesetz geschrieben wurde – und zu dessen Stärkung und Verstärkung auch die Verfassungsbeschwerde: Sie kann, so steht es in Artikel 93 Absatz 1 Nummer 4a, von „Jedermann“ (und natürlich Jederfrau) erhoben werden mit der Behauptung, „durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte“ oder einem anderen fundamentalen Recht, zum Beispiel dem Widerstandsrecht, verletzt zu sein. Damit liegt die Kontrolle staatlicher Macht auch bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Leuchtturm der Gerechtigkeit, der aber nur selten blinkt
Wie gesagt: Die Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerden ist bescheiden. Aber schon die bloße Möglichkeit, sich direkt und ohne Anwalt an Karlsruhe zu wenden, hat das Bundesverfassungsgericht zu einem Leuchtturm der Gerechtigkeit gemacht: Da schreiben Leute, die stolz darauf sind, dass es eine Instanz gibt, an die man sich wenden kann, wenn man gar nicht mehr weiter weiß. Und man muss dafür nicht Juristerei studiert haben. Manche Schreiberinnen und Schreiber machen das dadurch wett, dass sie sich rührend bemühen, juristische Formeln zu verwenden. Das erscheint bisweilen einigen Karlsruher Koryphäen dann als lächerlich, damit wollen sie nichts zu tun haben; sie können und wollen sich auch nicht mit Allem befassen. Es wurden deshalb Missbrauchsgebühren eingeführt; und es gibt im Gesetz die Regelung, dass es keine Begründung braucht, wenn Verfassungsbeschwerden vom Gericht nicht angenommen werden (so steht es in Paragraf 93 Absatz 1 Satz 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz).
An die 6000 Verfassungsbeschwerden trifft diese Nichtannahme pro Jahr, die meisten Nichtannahmen bleiben tatsächlich ohne jede Begründung, am Ende des Wegs steht dann sozusagen ein leeres Blatt. Das Gericht muss, wenn es nicht will, nicht einmal den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt nennen. Nur ein paar hundert Nichtannahme-Entscheidungen werden mit einer knappen Begründung versehen, einer sogenannten „Tenorbegründung“ zur Unzulässigkeit oder Unbegründetheit.
Reicht ein leeres Blatt?
Diskussionen darüber, ob diese Rigorosität so richtig sein kann, gibt es schon lang; die Zweifel werden nicht falscher dadurch, dass jüngst die AfD einen Vorstoß unternommen hat, das Verfassungsgericht zu einer Begründung zu zwingen (den AfD-Gesetzentwurf dazu hat jüngst Martin Eifert, Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Uni in Berlin, in der Außenansicht der SZ vom 27. Dezember 2018 heftig kritisiert. Es handele sich um einen „Angriff auf den Rechtsstaat“). Das Gericht muss sich aber schon überlegen, ob es wirklich klug ist, bei der Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden gar nichts zu erklären und gar nichts zu begründen.
Gewiss: Das höchste Gericht will und soll nicht in Arbeit ersticken, es will und soll Zeit haben für die Beschwerden, in denen wirkliche verfassungsrechtliche Probleme liegen und mit deren Hilfe das Verfassungsrecht weiterentwickelt werden kann. Aber auch dem Nichtannahmebeschluss geht ja stets ein kleines Gutachten am Gericht voraus. Der Inhalt eines solchen Gutachtens ließe sich ohne großen Aufwand zusammenfassen, meint etwa Christian Kirchberg; er ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in Karlsruhe und viel mit Verfassungsbeschwerden befasst. Der Respekt, den das Verfassungsgericht genießt, das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird – es hat nicht nur mit den gewichtigen Organstreitigkeiten und den Normenkontrollklagen zu tun, sondern vor allem mit den Verfassungsbeschwerden.
Mit der klugen Behandlung dieser Beschwerden begann der Aufstieg des Verfassungsgerichts. Das war 1958, also schon gut zehn Jahre, bevor die Verfassungsbeschwerde ins Grundgesetz geschrieben wurde. Die Verfassungsrichter erweiterten die Wirkkraft und Wirkmacht der Grundrechte damals in spektakulärer Weise.
Jud Süß, Veit Harlan und Erich Lüth
Auslöser für die Entscheidung war folgender Fall: Der Regisseur Veit Harlan hatte 1940 den antisemitischen Hetzfilm „Jud Süß“ gedreht. Als er dann 1951 den Film „Unsterbliche Geliebte“ mit Kristina Söderbaum in die Kinos brachte, rief Erich Lüth, Chef des Hamburger Presseamtes, zum Boykott auf – und zog damit Klagen der Filmverleiher auf sich. Erst vor dem Verfassungsgericht bekam er recht: Es urteilte, dass Grundrechte, in diesem Fall die Meinungsfreiheit, nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat sind, sondern dass sie auch Wirkung entfalten im Verhältnis der Bürger untereinander.
Die Grundrechte wurden so zu einer Lebensordnung, auf die sich jeder und jede im Alltag und per Verfassungsbeschwerde berufen kann. So ist es seitdem – und so soll es bleiben.