Wenn Leute nicht auf Linie liegen: Meinungsfreiheit in angespannten Zeiten. Vom „Friedensklärchen“ bis zum Ukraine-Krieg.

Von Heribert Prantl

Es gab eine Zeit, es war die Frühzeit der Bundesrepublik, in der ein späterer Bundespräsident, es war Gustav Heinemann, von deutschen Geheimdiensten abgehört wurde – gerade so, als gäbe es keine Unverletzlichkeit der Wohnung. Es war dies die Zeit, in der Bundeskanzler Konrad Adenauer die Gegner der Wiederbewaffnung öffentlich als Dummköpfe ersten Grades titulierte – gerade so, als gelte die Meinungsfreiheit nur für die Kanzlermeinung. In dieser Zeit wurde der große Theologe und Kirchenpräsident Martin Niemöller von Adenauer mit dem Satz abgekanzelt, es sei „tief bedauerlich, dass ein Deutscher seiner Regierung in den Rücken fällt“. Niemöller hatte den russisch-orthodoxen Patriarchen in Moskau besucht.

Das „Friedensklärchen“

In dieser Zeit sollte Klara Marie Faßbinder, katholische Pazifistin und Professorin für Geschichtspädagogik, weil sie Adenauers Aufrüstungspolitik bekämpfte, aus der Bonner Hochschule vertrieben und auf ihren Geisteszustand untersucht werden. „Friedensklärchen“ wurde sie genannt. Noch 1966 verweigerte ihr der Bundespräsident Heinrich Lübke die Annahme des französischen Ordens Ordre des Palmes Academiques, den sie als Übersetzerin des französischen Dichters und Diplomaten Paul Claudel erhalten sollte. Der politische Skandal erregte weltweites Aufsehen. Erst später, unter Bundespräsident Gustav Heinemann, konnte Klara Faßbinder dann diese Auszeichnung verliehen werden.

Wie man zum Staatsfeind wird

In dieser Zeit gab es in der Bundesrepublik einen Mann namens Wilhelm Elfes. Heute kennt ihn keiner mehr. Aber sein Fall kann als Exempel dafür dienen, dass die Meinungsfreiheit auch in demokratischen Zeiten keine ungefährdete Freiheit ist.

In der Weimarer Republik war Wilhelm Elfes Mitglied der Zentrumspartei gewesen, Abgeordneter des Rheinischen Provinziallandtags und mit dessen Präsidenten Konrad Adenauer freundschaftlich verbunden. 1945 wurde er zum Oberbürgermeister von Mönchengladbach, 1947 in den nordrhein-westfälischen Landtag gewählt für die neu gegründete CDU, deren damals pazifistische Grundeinstellung und deren Ahlener Programm ihm imponiert hatten. Auf den Wahlkampfzetteln seiner Partei hieß es, dass der Kandidat für eine Staatsordnung im christlichen Geist eintrete und „für die Idee einer europäischen Staatenföderation“ werbe. Das tat Elfes freilich so, dass er für eine Verständigung auch mit der Sowjetunion eintrat. Das entfremdete ihn Adenauer. Das machte ihn zum potenziellen Staatsfeind, was sich so auswirkte, dass man dem Mann nicht einmal mehr einen Reisepass ausstellte.

Nicht nur die Verwaltung, sondern auch die Justiz machte dieses Spiel mit. Weil Elfes seine Verständigungsgedanken auch im Ausland vertreten hatte, verweigerten ihm sogar die Richter den Pass, der damals noch für sämtliche Auslandsreisen notwendig war. Man ließ den Politiker 1955 nicht einmal zum Eucharistischen Weltkongress nach Rio de Janeiro fahren; das Bundesverwaltungsgericht fürchtete, dass er „die Bundesrepublik verleumdet“. So stand die Meinungsfreiheit unter der Kuratel der Bündnistreue zum Westen (oder was man dafür hielt). Meinungsfreiheit unter politischer Kuratel? Das darf in einer Demokratie nicht sein.

Sechzig Jahre nach Faßbinder, Niemöller, Elfes und anderen gilt es darauf zu achten, dass die Bundesrepublik nicht wieder in ihre Frühzeit zurückfällt.

Ein Professor sagt seine Meinung

Ein kleines aktuelles Beispiel. Es handelt von Johannes Varwick, Politik- und Rechtswissenschaftler, Ordinarius, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist 55 Jahre alt, als Wissenschaftler hoch anerkannt, Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, er war Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik. Varwick, der an seinem Lehrstuhl auch angehende Lehrerinnen und Lehrer ausbildet, ist einer breiteren Öffentlichkeit erstmals bekannt geworden, als er sich mit der AfD anlegte; die hatte „Meldeportale“ angelegt, über die Studenten Lehrende an die AfD melden sollten, die diese Partei im Unterricht kritisieren. Varwick sah diese Meldeportale als Teil einer Strategie, die Meinungshoheit zu erlangen und Lehrende einzuschüchtern. „Es soll Lehrerinnen und Lehrer mundtot machen.“ In einem offenen Brief schrieb Varwick, er könne der AfD diese Schnüffelarbeit gerne abnehmen, und bekannte sich in mehreren „Geständnissen“ unter anderem dazu: „Wir gestehen, dass wir die Zeit des Nationalsozialismus nicht als kleinen ‚Vogelschiss‘ behandelt haben, sondern als das, was sie war: ein verbrecherischer, undemokratischer und zutiefst menschenrechtsverletzender Teil der deutschen Geschichte, der die deutsche Politik dauerhaft prägen sollte und aus dem Verantwortung erwächst.“

Wie man dem Wissenschaftler den Stuhl vor die Tür setzte

Nun erhielt Professor Varwick einen befremdlichen Anruf – nicht von der AfD, sondern von der Deutschen Rentenversicherung Bund. Der Inhalt: Man wolle künftig aus einem angeblich triftigen Grund auf seine Dienste verzichten, also eine Art Kündigungsschreiben. Varwick hatte eineinhalb Jahrzehnte lang unter Leitung von drei Präsidenten (Herbert Rische, Axel Reimann und Gundula Roßbach, der derzeitigen Chefin) sozialpolitische Fachtagungen der Rentenversicherung moderiert. Die Leiterin des Netzwerks Alterssicherung der Rentenversicherung, Birgit Lohse, habe ihm, so Varwick, per Telefon mitgeteilt, dass seine Moderationen aufgrund seiner „Positionierung im Krieg gegen die Ukraine“ nicht mehr erwünscht seien. So vermeldete es der Professor in einem Tweet. Lohse erklärte dazu bei einem Anruf der SZ, sie sei im Urlaub und wolle in der Sache keine Erklärung abgeben.

Dirk von der Heide, der Sprecher der Deutschen Rentenversicherung, erklärte sodann am späten Sonntagnachmittag Folgendes: „Herr Professor Varwick hat die Jahrestagung des Forschungsnetzwerks Alterssicherung lange Jahre begleitet und gewinnbringend moderiert. Die Deutsche Rentenversicherung Bund ist gerade dabei, sich in vielen Feldern neu zu orientieren, sich neuen Entwicklungen zu stellen und Veränderungen anzustoßen. Dabei wird auch die Jahrestagung weiterentwickelt und personell neu aufgestellt.“

Varwick hatte in einigen TV-Gesprächsrunden und in Fachzeitschriften (zum Beispiel in der April-Ausgabe von Sirius. Zeitschrift für Strategische Analysen) sowie in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die vorbehaltlose Unterstützung der Ukraine durch den Westen problematisiert und gefragt, ob sie einer Verhandlungslösung diene. Varwick war auch Unterzeichner des Wagenknecht/Schwarzer-Manifests für Frieden im Ukraine-Russland-Krieg, hatte aber seine Unterschrift wieder zurückgezogen, weil ihm bei der Berliner Kundgebung dazu die Abgrenzung gegenüber Rechtsextremen und Russlandunterstützern „zu wenig“ war.

Unter Kuratel

Schon vor Monaten erklärte Varwick in einem Zeitungsinterview: „Solidarität mit der Ukraine ist keine Frage von möglichst vielen und schweren Waffenlieferungen, sondern eine Frage des Grades der diplomatischen Initiativen, mit unpopulären, aber realistischen Gedanken, diesen Krieg zu beenden.“ Er ist der Meinung, dass es dringend zu Friedensverhandlungen kommen müsse. Ein solch nüchterner Blick, so Varwick, sei keine Empathielosigkeit gegenüber den Opfern einer Aggression; sie sei vielmehr notwendiges Element strategischen Denkens. Aber schon damals war Varwick klar, „dass man sich mit solcherlei Überlegungen derzeit ins sicherheitspolitische Abseits begibt“ – und man dann in den einschlägigen sicherheitspolitischen Zirkeln „nicht mehr mitspielen“ dürfe. Das ist bedauerlich und kurzsichtig für die notwendigen Debatten und zählt für den Betroffenen zu den Kollateralschäden des Beharrens auf seinen Überzeugungen.

Rückfall in alte Zeiten

Nun ist es nicht besonders schlimm, wenn ein Professor Tagungen der Rentenversicherung nicht mehr moderieren darf; aber bezeichnend ist es vielleicht schon. Varwick selbst schrieb der Präsidentin der Rentenversicherung einen verwundert- bedauernden Brief „angesichts langjähriger vertrauensvoller Zusammenarbeit“. Im Übrigen reagierte er auf SZ-Nachfrage gelassen. Aber man fragt sich: Die sozialpolitischen Themen, um die es auf den Jahrestagungen der Rentenversicherung (sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung) geht, haben mit dem Krieg in der Ukraine und der Frage, wie man dort zum Frieden kommt, wenig bis gar nichts zu tun. Wie kommt die Rentenversicherung dazu, sich zum Krieg in der Ukraine zu positionieren und aufgrund einer Meinungsäußerung eines bisherigen Vertragspartners dazu diesem den Stuhl vor die Tür zu setzen? Das ist übergriffig, das läuft dem Artikel 5 des Grundgesetzes zuwider. Eine Fernsehsendung kann man abschalten, wenn sie einem nicht passt. Eine Zeitung kann man abbestellen. In der Rentenversicherung ist man als Arbeitnehmer Zwangsmitglied, man kann nicht kündigen – man muss so ein Handeln wie im Fall Varwick hinnehmen. Aber beklagen darf und muss man sich schon.

Es gibt eine grassierende Unduldsamkeit. Es gibt eine zunehmende Unfähigkeit, Andersdenkende verstehen zu wollen und verstehen zu können. Diese Unfähigkeit ist in den Jahren der Corona-Pandemie gewachsen und sie sollte in Ukraine-Kriegszeiten nicht anhalten. Sie täte der Demokratie nicht gut. Demokratie braucht die respektvolle Diskussion. Zur Demokratie gehört der Gedanke, dass womöglich auch der andere recht haben könnte.


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