Guten Tag,
der schönste Ostergruß in diesem Jahr kam von einem alten Herrn, der ein Freund meines verstorbenen Vaters war. Er bedankte sich für eine kleine Gefälligkeit, die ich ihm erwiesen hatte; er tat es auf einer Karte mit dem neckischen Spruch: „Bei mir ist jeden Tag Ostern, ich suche immer irgendwas“. Die Karte hatte er in ein Buch mit dem Titel „Eine deutsche Meisterschaft“ gelegt und er meinte dazu, dass ich doch eigentlich den Autor des Romans, vielleicht auch das Buch, kennen müsste.
Irrungen, Wirrungen
So ist es auch. Es handelt sich um den ersten Band einer ziemlich spannenden, aber ziemlich unbekannt gebliebenen Romantrilogie, in der das Schicksal einer Familie geschildert wird, die in der Zeit des Wirtschaftswunders den Aufschwung verpasst. Der Autor schreibt, präzise beobachtend und brillant entfaltend, Familien- und Gesellschaftsgeschichte – die Geschichte der bundesdeutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.
Er schreibt ein Epos der Nachkriegsgeschichte, ein Epos über die verweigerte Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit, über die Irrungen, Wirrungen und Wahrheiten der 68er-Studentenbewegung, über das Werden und Wanken von Rechtsstaat und Demokratie, über deutsche Suche und Selbstfindung, Spaltung und Wiedervereinigung. Er schreibt Zeitgeschichte als Familiengeschichte, als Familiensaga. Schauplatz der Handlung ist „eine kleine Großstadt im Süden Deutschlands“.
Der Autor der Romantrilogie heißt Benno Hurt; dass er auf eine langjährige Richterlaufbahn zurückblickt, merkt man dem Buch an. Er ist ein früherer Kollege von mir. Und dass es sich bei Kolbstadt, der kleinen Großstadt im Süden Deutschlands, um Regensburg handelt, ist unverkennbar.
Wenn die Außenkontakte reduziert sind, empfiehlt sich die Beschäftigung mit den Innenkontakten
Dieser Ostergruß war mir der Anlass für einen gedanklichen Osterspaziergang. In der Corona-Zeit, in der die sogenannten Außenkontakte reduziert sind, empfiehlt sich ja die Beschäftigung mit den Innenkontakten. Zu diesen Innenkontakten zählt Benno Hurt; er war ein Jugendrichter am Amtsgericht in Regensburg, als ich einst dort meine Berufslaufbahn begonnen habe; er war nicht nur Richter, er ist auch ein Schriftsteller – über dessen Romane der Literaturkritiker Denis Scheck respektvoll sagt: „Keine Vampire, keine Werwölfe, keine Zauberinternate – und doch erzählt Benno Hurt auf magische Weise“.
Es war am Beginn meiner beruflichen Laufbahn, dass ich auf diesen Richter und Schriftsteller traf. Ich war damals Staatsanwalt in Regensburg und ich hatte ab und an meine Plädoyers auch vor diesem jugendlich wirkenden Herrn zu halten, der passenderweise Vorsitzender des Jugendschöffengerichts war. Er fiel mir schon deswegen auf, weil er seine Robe mit dem Samtbesatz besonders graziös zu tragen verstand und seine weiße Fliege am Hemdkragen weißer zu sein schien als die Fliegen und Krawatten der anderen Richter. Dieser Benno Hurt war ein guter, ein rechtssuchender und rechtsfindender Richter, weil er ein guter Beobachter war; er konnte in den Menschen, die vor ihm standen, so viel lesen wie in den Akten.
Weil da noch Hoffnung ist
Eine Schulklasse, die bei ihm in der Gerichtsverhandlung war, verabschiedete er einmal mit einer Bemerkung darüber, warum er so gerne als Jugendrichter wirke: „Weil da noch Hoffnung ist“. Er war schon damals ein Literat, einer, der die Dinge hinter den Dingen sehen kann und mit ihnen ringt und hadert.
Hauptfigur seiner Romantrilogie („Eine deutsche Meisterschaft“, „Der Wald der Deutschen“ und „Ein deutscher Mitläufer“) ist Christian Kirsch, der in der Jugendmannschaft des SSV Kolbstadt Fußball spielt und der dann, wie es Hurt tat, Jura studiert und Justizjurist wird.
Die beleidigte Justiz
Seine Kolleginnen und Kollegen hielten Hurt bisweilen für einen etwas wunderlichen und selbstverliebten Menschen; aber das gilt vielleicht für jeden Richter, der sich nicht mit dem Verfassen von Urteilen begnügt, sondern noch ganz andere Professionen und Leidenschaften hat und, zum Beispiel, Romane schreibt, in denen er von seinen beruflichen Erfahrungen zehrt. Ein Kollege verklagte Hurt einmal, weil er sich in einer Erzählung beleidigt fand. Und die Justizverwaltung war auch beleidigt, weil sie in einer anderen Erzählung (mit dem schönen Titel „Und führe uns nicht in Berufung“) den Justizbetrieb unvorteilhaft dargestellt fand.
Es ist, zumal an ruhigen Festtagen, lohnend, in Erinnerungen spazieren zu gehen. Zu meinen an Ostern aufgelebten Erinnerungen zählt eine Fotoausstellung, die ich seinerzeit, da war ich Pressesprecher der Regensburger Justiz, im dortigen Schwurgerichtssaal veranstaltet habe. Die damalige bayerische Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner hat sie eröffnet.
Die großformatigen Fotografien aus der Welt der Justiz stammten von Benno Hurt. Womöglich hat er auf diese Weise seine schriftstellerische Arbeit vorbereitet, sich Eindrücke erarbeitet und festgehalten. Eines dieser Schwarz-Weiß-Bilder ist mir bis heute besonders im Gedächtnis: Es zeigt den leeren Aushangkasten vor einem Sitzungssaal, sein Holz zerlöchert von den Tausenden von Reißnägeln, die das jeweilige gerichtliche Tagesprogramm befestigt hatten – das Brett der Gerechtigkeit; jedes Loch markiert ein Schicksal.
Die Sehnsucht nach Veränderung und was aus ihr wurde
Als politischer Journalist frage ich in meinen Kommentaren und Kolumnen: Was ist mit dem Staat passiert? Wie hat er sich verändert, wie hat sich die Politik verändert? Benno Hurt fragt: Was ist mit den Menschen passiert? Er nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine Reise ins Innere der Menschen. Und diejenigen Leserinnen und Leser, die in den 1960er- und 1970er-Jahren jung waren, finden sich selbst auf dieser Reise wieder, weil fast jeder von ihnen damals die Sehnsucht hatte nach Veränderung und Aufruhr, nach „Change“– wie es Hurt seinen Protagonisten Christian Kirsch immer wieder sagen lässt.
Gleichwohl sind seine Bücher keine sehnsuchtsvollen „Weißt-Du-noch-Bücher“ für Alt-68er. Hurt schildert einen ewigen Grundkonflikt, den Konflikt zwischen Anpassung und Verweigerung. Und da spielt das Recht, an das wir glauben, eine wichtige Rolle, weil es auf die Wünsche der Gesellschaft antwortet, auch wenn es deren Schöpfung ist.
Manchmal kommt der Ruhm, manchmal kommt er nicht
Hurt ist Kulturpreisträger der Stadt Regensburg, aber ein Star der Literaturszene ist er nicht geworden. Die meisten seiner Bücher sind nur noch antiquarisch zu haben. Lesenswert sind freilich nicht nur Bücher, die auf Bestsellerlisten standen oder stehen. Manchmal kommt der Ruhm, manchmal kommt er nicht. Runde Geburtstage kommen immer. Der Schriftsteller, Fotokünstler und ehemalige Jugendrichter Benno Hurt wird am kommenden Sonntag 80 Jahre alt.
Ich wünsche Ihnen in den Nach-Ostertagen Zeit zum Spazierengehen – und sei es in Erinnerungen.
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung