Guten Tag,
eine Frage zu Beginn: Wenn Sie sich zwei Absätze aus dem Grundgesetz auswählen sollten, die für Sie am wichtigsten und am wertvollsten sind – welche würden Sie wählen?
Ich würde den Artikel 1 Absatz 1 und den Artikel 20 Absatz 4 wählen. Diese beiden Absätze sind die Grundlage des Gemeinwesens, sie sind Alpha und Omega des demokratischen Rechtsstaats. Da ist zum einen also der ebenso schlichte wie großartige Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und da ist zum anderen das Widerstandsrecht: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“.
Pathetisches Larifari?
Es gibt Staatsrechtler, die diesen Widerstandsartikel für ein pathetisches Larifari halten: Wenn der Widerstand erfolgreich sei, so sagen diese Staatsrechtler, dann brauche man doch hinterher keine große Rechtfertigung durch ein ausdrückliches Recht; und wenn der Widerstand scheitere, dann helfe so ein Recht auch nichts mehr. Eine solche Bewertung ist falsch. Sie verkennt die Kraft des Symbols. Und sie verkennt, dass in diesem Artikel 20 Absatz 4 eine Forderung und eine Mahnung steckt. Er ist die Aufforderung, nicht so lange zu warten, bis „andere Abhilfe nicht mehr möglich ist“. Der Widerstandsartikel appelliert an die Courage der Demokratinnen und Demokraten, es nicht so weit kommen zu lassen, dass man den großen Widerstand braucht, wie er in Artikel 20 Absatz 4 benannt ist.
In der Demokratie muss ein kleiner Widerstand beständig geleistet werden, auf dass der große Widerstand nie mehr notwendig wird. Der Widerstand in der Demokratie heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang. Er heißt Edward Snowden oder Carola Rackete, er heißt Fridays for Future oder Black Lives Matter. Er besteht in der Demaskierung von Übelständen, er besteht in der Werbung für Grundrechte in Corona-Zeiten, er besteht im Hinweis, dass Gesundheit mehr bedeutet als Virenfreiheit, er besteht im Insistieren darauf, dass zur Freiheit auch andere Freiheiten gehören als die Freiheit von Covid-19.
Widerstand im Alltag
Der kleine Widerstand in der Demokratie zeigt sich bei den Aktionen von Greenpeace und Pro Asyl. Und er trägt die Namen der Whistleblower, die Namen derer also, die wachrütteln, die Unrecht aufdecken, Missstände benennen und dafür persönlich geradestehen. Manchmal trägt er Namen von Menschen, die gar nicht öffentlich bekannt werden, die unspektakuläre notorische Grundrechtsanwender sind. Sie praktizieren Widerstand im Alltag. In den Zeitungen werden sie manchmal als Helden des Alltags gefeiert, in den Firmen und Behörden, in denen sie beschäftigt sind, gelten sie oft als Denunzianten oder als Störer.
Hitlers Geburtstag
Der Widerstandsartikel stand nicht von Anfang an im Grundgesetz. Er kam erst zwanzig Jahre später, 1969, hinein – als Kompromissformel angeblich, um der SPD die Zustimmung zu den Notstandsgesetzen zu erleichtern. Wenn es so war, dann war der Widerstandsartikel wenigstens ein Gutes, was die Notstandsgesetze gebracht haben.
Die Zeilen über den Widerstand haben ihren Platz eher zufällig im Artikel 20 Absatz 4 gefunden. Es ist dies aber ein vielsagender Zufall: Der 20.4., der Geburtstag Hitlers, und der 20. Juli 1944, der Tag des Widerstands gegen ihn – sie sind die Klammer für diesen Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes. Der Gedenktag des 20. Juli, den wir am Montag begehen – er lehrt, schon den Anfängen von Menschenverachtung entgegenzutreten.
20. Juli 1944
Noch am Abend des 20. Juli 1944 wurden Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitverschwörer Friedrich Olbricht, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Werner von Haeften im Hof des Bendlerblocks in Berlin erschossen. Viele der anderen Widerstandskämpfer gegen Hitler hat dann Roland Freisler, der tobende Präsident des sogenannten Volksgerichtshofs, in Schau- und Schreiprozessen zum Tode verurteilt. Diese Widerstandskämpfer waren überwiegend keine Demokraten; nicht wenige von ihnen hatten zuvor dem NS-Regime gedient, waren selbst schuldig geworden – hatten aber dann, mit sich ringend, den Weg zum Widerstand gefunden. Vor dem Unrechtsrichter Freisler stand ein anderes, ein besseres Deutschland. Mit bemerkenswerter Unerschrockenheit traten sie dem Henker entgegen; das ist jetzt 76 Jahre her.
Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps
Der Widerstandsartikel ist ein Angriff auf die Merksprüche im kollektiven Hintergrundbewusstsein der Deutschen. Nein, Ruhe ist nicht die erste Bürgerpflicht. Nein, Gehorsam ist nicht des Christen Schmuck. Jahrhundertelang wurden den Menschen solche Sprüche eingebläut: Hatte man nichts mehr, an das man sich halten kann, hatte man immer noch die Ordnung, auch wenn es eine Unrechtsordnung war. Gerade an den Tiefpunkten ihrer Geschichte haben sich die Deutschen daher als ordentlich erwiesen. Mit der Lösung „Ruhe, Ordnung und Sicherheit“ brachen sie Kriege vom Zaun, bauten sie Konzentrationslager, brachten sie sechs Millionen Juden um – planmäßig, systematisch, ordentlich.
Begleitet von Sätzen wie „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“ haben brave Bürger verwerfliche Anweisungen befolgt, weil es Anweisungen waren: „Befehl ist Befehl“. Brave Soldaten haben verbrecherische Befehle befolgt, weil es Befehle waren; brave Richter haben ungerechte Gesetze befolgt, weil es Gesetze waren. Sie folgten ohne Gewissensbisse – nicht etwa nur in der Diktatur.
In den kurzen Zeiten, in denen die Bürgerinnen und Bürger nicht brav waren, haben sie Taten vollbracht und Werke geschaffen, die mehr wert waren und mehr wert sind als alle Bravheiten: 1848, als die Bürger auf die Barrikaden gingen, formulierten sie in der Frankfurter Paulskirche ihre demokratischen Rechte. Sie beseitigten die Vorrechte des Adels, garantierten die Meinungsfreiheit, die Glaubensfreiheit, die Versammlungsfreiheit. Diese Grundrechte galten zwar nicht lang, sie wurden von der Reaktion wieder ausradiert, aber sie blieben als Idee – und sie wurden 1949 Grundgesetz.
Deutsche Mondlandungen
140 Jahre nach 1849 gingen die Deutschen in Ostdeutschland wieder zu Hunderttausenden auf die Straße – und erkämpften die Wiedervereinigung. Aber solche Zeiten des Widerstands waren stets kurz in der deutschen Geschichte. Die Revolution von 1848 und die von 1988/89, auch die von 1918, als sie die Monarchie stürzte und die Republik ausrief – sie sind so etwas wie deutsche Mondlandungen – abenteuerliche Unterfangen, ganz weit weg, unwirklich und verbunden mit dem Gefühl, dass man wenig später nicht mehr so genau weiß, wozu sie eigentlich gut waren.
Die deutsche Geschichte hat demokratische Unruhe erst einmal nicht gut ausgehalten: Der Widerstand gegen die Bismarckschen Sozialistengesetze, der Sturz der Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg – ein stabiles politisches Bewusstsein hat sich daraus nicht entwickelt. Selbst die antiautoritäre Bewegung von 1968 blieb, was ihren Widerstandskern betraf, erst einmal eine Bewegung von Studenten, Professoren, Verlegern und Journalisten; auf andere Bevölkerungsteile griff sie zunächst nicht nennenswert über, zumal die Verbrechen der RAF dem Staat auch dazu dienten, Widerstand als Vorstufe des Terrors zu diskreditieren.
Der Ratschlag des Notar Bolamus
Aber langfristig führte 1968 zu einer Fundamentalliberalisierung der Republik. Frauenemanzipation, Ökologie- und Anti-Atombewegung, die Friedensbewegung, eine entspießerte Sexualmoral, eine Demokratisierung der Gesellschaft – das ist das Erbe von 1968. Die Demonstrationen gegen die Notstandsverfassung, gegen die Nachrüstung, gegen Wackersdorf und Gorleben: Sie führten immerhin dazu, dass die Grundrechte neu entdeckt wurden und die Demonstranten dort ihre politischen Hoffnungen verankerten. Es entstand ein Bewusstsein, dass man Rechte hat als Bürger. Bürgerinitiativen über Bürgerinitiativen entstanden – aber nicht ein rebellischer Geist, wie er sich zum Beispiel in Frankreich immer wieder zeigt.
Die großen Erhebungen, wenn Sozialabbau betrieben wird – sie blieben und bleiben in Deutschland aus. Es gibt zwar keinen Obrigkeitsgeist mehr, der ist ausgetrieben. Aber zugleich ist es so, wie der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt einst im Lied über den Notar Bolamus gespottet hat: „Alles mit Maß und mit Ziel. Und niemals irgendwas übertreiben. Dann wird jedes Organ und alles in Ordnung bleiben.“
Ob das der richtige Rat ist? Der kleine Widerstand braucht in Deutschland eine große Heimat. Das gehört zu einer guten Demokratie. Das ist Heimatliebe. Das sagt der Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz.
Schöne Sommer- und Ferientage wünscht Ihnen
Ihr
Heribert Prantl
Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung