Was ist, wenn aus Lebensverlängerung eine Leidensverlängerung wird? Der Bundesgerichtshof muss entscheiden, ob und wann künstliche Ernährung ein Schaden ist, für den Schmerzensgeld bezahlt werden muss.
Es gibt einen Abgrund des Verlassenseins. In fast jeder Stadt gibt es den Ort, an dem sich dieser Abgrund auftut. Viele fürchten und meiden ihn; sie fürchten ihn, so wie die Vorfahren einst das Höllenfeuer und die Höllenqualen gefürchtet haben. Die Hölle von heute trägt den Namen Alzheimer, sie heißt Pflegeheim-Demenzstation.
Die dementen Alten sind ausgelagert aus dem Gemeinwesen, weil sie so viel verlernt haben von dem, was man von erwachsenen Menschen erwartet: das Lesen, das Sprechen, das Anziehen und oft sogar das Essen. Manchmal können sie aber auf einmal Dinge, von denen sie selbst nicht gewusst hatten, dass sie die können: Sie können singen, sie können Musik machen, sie können malen. Aber im Lauf der Zeit erlischt dann auch das wieder. Es bleibt nicht einmal Erinnerung. Es bleiben nur das Lachen und das Weinen, es bleiben Verletzlichkeit, Aggression und die Melancholie eines im Wortsinn ver-rückten Seins.
Deutscher Pflegetag in Berlin
Warum schreibe ich Ihnen diese Gedanken, die mir bisweilen so durch den Kopf gehen, wenn ich am Sonntag meine sehr alte Mutter besuche? In der kommenden Woche, vom 14. bis 16. März, ist in Berlin der Deutsche Pflegetag, die Schirmherrschaft hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) übernommen, und auf der Tagesordnung stehen Themen wie „Telenursing und Robocare“ sowie „neue Ansätze für die Palliativpflege“. Das Motto der Veranstaltung klingt, wenn man an die Zustände in der Pflege denkt, ein wenig seltsam: „Gepflegt in die Zukunft – Jetzt!“
„Gepflegt“ – von diesem Wohlgefühl sind viele alte Menschen und ihre Familien weit entfernt. In die Lebens- und Arbeitswelt der Noch-Nicht-Alten passen die Alten nicht. Viele Familien nehmen es gleichwohl auf sich, ihre Alten zu Hause zu pflegen. Diese Pflege in der Familie verlangt ungeheure Anstrengung; früher hat man Aufopferung dazu gesagt. Eine bezahlbare Haus-Betreuung durch Fachkräfte gibt es nicht.
In Würde alt und lebenssatt
Eine Kultur, die die Lebenszeit so sehr verlängert hat, hat noch keine Antwort auf die Fragen gefunden, die damit einhergehen. Sie hat nicht die Kraft, die Menschen in Würde alt und lebenssatt werden zu lassen – und sie will offenbar auch das Geld nicht dafür ausgeben. Der Respekt vor den Kindern und der Respekt vor den Alten gehören aber zusammen. Er ist das Band, welches das Leben umspannt. Zu diesem Respekt gehört es, dass Alte auch in Würde ver-rückt werden können. Das rückt die Gesellschaft gerade.
Wer der Demenz begegnet, begegnet der eigenen Angst; mit ihr bleibt jeder allein in einer Welt, die auf Leistung getrimmt ist: der Angst davor, die Kontrolle über sich zu verlieren; der Angst davor, umfassend angewiesen zu sein auf andere. Es gibt Menschen, die nach einer Alzheimer-Diagnose aus diesem Grund den Suizid gesucht haben. Niemandem steht ein Urteil über einen solchen selbstbestimmten Austritt aus dem Leben zu. Es ist dies eine Entscheidung, die zu respektieren ist – umso mehr, als die Gesellschaft den Respekt vor dementen Menschen vermissen lässt. Nicht selten erinnert die Pflege der dementen Alten an eine Strafe dafür, dass sie so alt geworden sind.
Der Bundesgerichtshof entscheidet: Schmerzensgeld für künstliche Ernährung?
Pünktlich zum Auftakt des Deutschen Pflegetags verhandelt der Bundesgerichtshof in Karlsruhe am kommenden Dienstag über eine Frage, die viele Angehörige von schwerstkranken alten Menschen umtreibt: PEG – oder nicht PEG? Das heißt: Künstliche Ernährung – Ja oder Nein? Wann ist die künstliche Ernährung nicht mehr Lebensverlängerung, sondern nur noch Leidensverlängerung?
Der Sohn eines Mannes, der bis zu seinem Tod bewegungsunfähig und kommunikationsunfähig über eine Magensonde ernährt wurde, hat diese Frage zum Gericht getragen. Er behauptet, die künstliche Ernährung sei eine unnötige und ärztlich nicht indizierte Leidensverlängerung gewesen. Ein Patiententestament des schwerstkranken Vaters gab es nicht, auch sonst keine Willensäußerungen. Der vom Gericht bestellte Betreuer des Schwerstkranken hatte die Ernährung per Sonde geschehen lassen.
Wenn Lebensverlängerung nur noch Leidensverlängerung ist
Die Perkutane Endoskopische Gastrostomie (PEG) ist ein künstlicher Zugang von außen durch die Bauchdecke in den Magen oder in den Dünndarm. Durch diesen Zugang wird ein elastischer Kunststoffschlauch gelegt, der die Nahrung transportiert. Der Zustand des künstlich aufrechterhaltenen Scheinlebens kann Jahre dauern. So war es in dem Fall, den der Bundesgerichtshof nun zu entscheiden hat.
Der natürliche Sterbevorgang, das synchrone Verlöschen von Körper, Geist und Seele, wird mittels PEG verzögert und verlängert. Etwa hunderttausend solcher Wachkomapatienten liegen in deutschen Krankenhäusern. Wann darf, wann soll, wann muss die künstliche Ernährung abgebrochen werden? Die höchsten Richter haben früher einmal in einer Entscheidung verlangt, dass vor dem Abbruch der künstlichen Ernährung die „letzte Sicherheit“ vorliegen müsse, „dass die Krankheit des Betroffenen einen irreversiblen und tödlichen Verlauf genommen hat“.
Der Sohn des künstlich ernährten Vaters verklagt den Arzt
Der Fall, der beim Bundesgerichtshof zu entscheiden ist, liegt so: Hausarzt Dr. W. hatte den Vater des Klägers viele Jahre lang bis zu dessen Tod im 82. Lebensjahr künstlich ernähren lassen. Der Sohn verklagte ihn nach dem Tod des Vaters wegen nicht indizierter künstlicher Lebensverlängerung auf Schmerzensgeld und Schadenersatz. Hätte der Arzt bei seinem Vater die ärztlichen Leitlinien beachtet und nach dem Facharztstandard gehandelt, so der Kläger, dann hätte sein Vater jedenfalls lange vor dem 1. Januar 2010 friedlich und würdevoll versterben können.
Zu Lebzeiten seines Vaters hatte der in Amerika lebende Sohn mit verschiedenen Rechtsanwälten seinem Vater nicht helfen können. Für 22Monate Leidensverlängerung – die Zeit, in der diese Ansprüche noch nicht verjährt waren – fordert er Schadenersatz in Höhe von 53 000 Euro und Schmerzensgeld in Höhe von 100 000 Euro als Ansprüche, die nach dem Tod des Vaters auf ihn als Erben übergegangen sind. Es handelt sich um ein Pilot-Verfahren. Noch nie wurde höchstrichterlich geklärt, ob die Lebensverlängerung ein Behandlungsfehler sein kann. Noch nie wurde höchstrichterlich geklärt, ob ein Schaden durch Lebensverlängerung entstehen kann – und wenn ja, welcher.
Der klagende Sohn des Patienten meint dazu: Entschädigungspflichtig sei ja nicht das Leben, sondern das Leiden. Die erste Instanz (das Landgericht München I) hat das Verhalten des Arztes als Behandlungsfehler gewertet – aber die Klage trotzdem abgewiesen, weil angeblich nicht zu klären gewesen sei, ob der Betreuer die Magensonde auch bei gründlicher Aufklärung vielleicht doch gewollt hätte. Die zweite Instanz (das Oberlandesgericht München) urteilte, dass die Lebensverlängerung per PEG-Sonde in diesem Fall einen Schaden im Rechtssinn darstelle. Es sprach dem Sohn ein Schmerzensgeld von 40 000 Euro zu, weil der Arzt über eine Beendigung der Ernährung intensiv mit dem Betreuer des Patienten hätte sprechen müssen, was er nicht getan habe. Schadenersatz wurde dem Sohn aber gleichwohl nicht gewährt, weil ein Vermögensschaden des Vaters durch die künstliche Ernährung nicht ausreichend dargelegt worden sei.
Im Zweifel für das Leben? Oder im Zweifel gegen das Leiden?
Es ist offen, wie nun in letzter Instanz der Bundesgerichtshof entscheiden wird. Das Urteil kann spektakuläre Auswirkungen haben: Gilt – wenn keine Patientenverfügung vorliegt – noch der Grundsatz „In dubio pro vita“, der Grundsatz also, dass dem Schutz des Lebens Vorrang eingeräumt werden muss? Oder gilt bei Schwerstkranken künftig der Grundsatz „In dubio contra vita“, dass also dem Schutz vor weiterem Leiden der Vorrang eingeräumt werden muss? Es stellen sich viele Fragen. Was ist die Pflicht des Arztes, was ist die Pflicht des Betreuers, was die des Sohnes?
Im vorliegenden Fall konnte der Sohn den eigenen Vermögensschaden durch das Weiterleben des Vaters nicht plausibel machen. Aber irgendwen schädigte das Weiterleben des Schwerstkranken ja. Werden also, wenn das Weiterleben an sich einen Schaden darstellt, künftig die Kostenträger klagen? Aber wie pervers wäre das denn, wenn die Pflegekassen vor Gericht ziehen, weil die Sonde nicht früh genug gezogen wurde? Diktiert dann die Ökonomie den Zeitpunkt des Sterbens? Der zu entscheidende Fall schreit: Er schreit jeden Menschen an, eine Patientenverfügung zu schreiben und darin gegebenenfalls zu bestimmen, solche Maßnahmen zu unterlassen, „die nur den Todeseintritt verzögern“.
Der Bundesgerichtshof hat in einem Grundsatzurteil im Jahr 2010 das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestärkt: Seine Einwilligung rechtfertigt sowohl das Unterlassen weiterer lebenserhaltender Maßnahmen als auch die Beendigung einer nicht mehr gewollten Behandlung. Das heißt: Das Recht und die Medizin müssen die Vorbereitungen und die Anordnungen, die der Mensch für sein Sterben getroffen hat, achten und beachten. Jeder Mensch hat am Ende seines Lebens Anspruch auf inneren Frieden.