Vor 100 Jahren wurde der Revolutionär Gustav Landauer von Rechtsradikalen verschleppt und getötet. Neu entdeckte Gerichtsakten geben Aufschluss über die letzten Minuten seines Lebens.
Der Geist hat zwei schlimme Feinde: „Erstens die Dummheit und zweitens den Verstand. Oft finden sie sich vereinigt in Form kluger Geistlosigkeit; die hat auch das Esperanto erfunden.“ So schrieb der vielseitige Gelehrte, sozialistische Schriftsteller, Übersetzer, Pazifist und Revolutionär Gustav Landauer im Jahr 1907 in einem pfiffigen Text, den er „Lernt nicht Esperanto“ überschrieb.
Laudator der europäischen Vielfalt
Es war dies ein Lobpreis auf die europäische Vielfalt, auf die Lebendigkeit der Sprachen in Europa, auf ihre Tiefgründigkeit, ihre Wunderlichkeiten und ihre Geheimnisse. Und dann machte Landauer all denen einen Vorschlag, die Zeit hatten, Esperanto zu lernen (was damals sehr beliebt war): „Eine Sprache sollen sie lernen, und zwar zunächst ihre eigene …“ Er meinte das nicht überheblich und nicht besserwisserisch, er zählte sich ja selbst zu den Lernenden. Und dann fuhr dieser Literat, der viele Sprachen sprach, in Bezug auf den Deutschen fort: „Und er lernt seine deutsche Sprache am besten in all ihren Feinheiten und Innigkeiten kennen, wenn er noch eine fremde Sprache dazu lernt.“ Dieser Gustav Landauer hat sich auch intensiv mit dem Denken des Mystikers Meister Eckhart befasst und im Jahr 1903 die erste größere Übersetzung von dessen Schriften aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche herausgebracht.
Vordenker der Münchner Räterepublik
Mein Newsletter ist heute ein Gedenken an diesen wunderbar klugen, aber sehr vergessenen Mann: Er wurde vor genau hundert Jahren von rechtsradikalen Freikorps-Soldaten bestialisch umgebracht. Landauer war einer der Vordenker der Münchner Räterepublik gewesen; sein Freund Kurt Eisner, der erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern, hatte den Gelehrten, der sich zum pazifistischen Anarchismus bekannte, im Herbst 1918 aus Berlin nach München geholt, auf dass er bei der „Umgestaltung der Gesellschaft“ mitwirke. Für Landauer war der Begriff Sozialismus gleichbedeutend mit dem der Anarchie, wobei für ihn der Sozialismus eine freiheitliche, nicht autoritäre Angelegenheit sein sollte. Landauer wollte „nach Möglichkeit aus dem Kapitalismus austreten“, er wollte „die Abschaffung des Kriegs durch die Selbstbestimmung der Völker“. Er war seiner Zeit voraus. Ministerpräsident Kurt Eisner wurde am 21. Februar 1919 erschossen, ein paar Wochen vor Landauer – sein Attentäter war Graf Arco-Valley, ein Nazi. Bis dahin war die Münchner Revolution eine ganz friedliche gewesen ohne jedes Blutvergießen; dann begann die Zeit der Straßenschlachten und der politischen Morde, die Zeit eines Terrors, wie ihn so furchtbar keine andere deutsche Stadt erlebte, auch nicht Berlin.
Zu Tode getreten
Eines der Opfer dieses furchtbaren Mordens war Gustav Landauer. Am 1. Mai 1919 wurde er ins Zuchthaus Stadelheim verschleppt, am nächsten Tag halbtot geprügelt und dann erschossen. Ein Augenzeugenbericht vom 2. Mai 1919: Im Gefängnishof war ein Major in Zivil, „der mit einer schlegelartigen Keule auf Landauer einschlug. Unter Kolbenschlägen und den Schlägen des Majors sank Landauer zusammen. Er stand jedoch wieder auf und wollte zu reden anfangen. Da rief ein Vizewachtmeister: ‚Geht mal weg!‘ Unter Lachen und freudiger Zustimmung der Begleitmannschaften gab der Vizewachtmeister zwei Schüsse ab, von denen einer Landauer in den Kopf traf. Landauer atmete aber immer noch. Da sagte der Vizewachtmeister: ‚Geht zurück, dann lassen wir ihm noch eine durch!‘ Dann schoss der Vizewachtmeister Landauer in den Rücken, dass es ihm das Herz herausriss und er vom Boden wegschnellte. Da Landauer immer noch zuckte, trat ihn der Vizewachtmeister zu Tode.“
Ein sensationeller Fund
Später kam es wegen des Mordes zu Ermittlungen der Justiz und zu einem Urteil des Inhalts: „So empörend die Misshandlung eines wehrlosen alten Mannes als Gefangenen ist, war doch zu Gunsten des Angeklagten strafmildernd zu berücksichtigen, dass der Angeklagte den Schriftsteller Landauer für den Urheber der Räterepublik und einen gewissenlosen Hetzer hielt.“ Diese Ermittlungs- und Gerichtsakten wurden erst vor kurzem wieder aufgefunden und vom Generallandesarchiv Karlsruhe (Landauer war gebürtiger Karlsruher) komplett ins Internet gestellt: „Neue Details zum Mord an Gustav Landauer am 2. Mai 1919. Ein sensationeller Fund im Generallandesarchiv Karlsruhe brachte jetzt Gerichtsakten zu dem 100 Jahre alten Fall ans Tageslicht. Kleine Ausstellung im Generallandesarchiv Karlsruhe. 2. April – 10. Mai 2019„. Dort ist die Aussage des Angeklagten Digele zur Ermordung Landauers so festgehalten, „dass ein Offizier Landauer schlug. Dann wurde der Gefangene durch den ersten Hof geführt, gefolgt von etwa 60 bis 100 Personen. „Ich ging vor Landauer her“, sagte Digele aus: „Es wurde gerufen ‚Schlagt ihn tot!‘.“ Nun ging alles sehr schnell. Ein anwesender Offizier befahl: ‚Halt! Der Landauer wird sofort erschossen.‘ Laut einem Zeugen fragte Landauer daraufhin: ‚Wollen Sie mich nicht verhören?‘ Der Offizier antwortete nicht ihm, sondern seinen Soldaten: ‚Nein, der Mann wird sofort erschossen!'“
Ein anarchisches Leben
In Landauers Schriften findet sich ein Satz, bei dem sich, wenn man ihn liest, angesichts dieses furchtbaren Schicksals alles zusammenkrampft: „Die Menschen wissen heute nicht, erleben es nicht, was das ist: freudiges, schönes Leben“, schrieb Landauer. „Wir wollen es ihnen zeigen.“ Er wollte ihnen ein gänzlich selbstbestimmtes, kreatives, bewegliches, gemeinschaftliches – ein anarchisches Leben zeigen. Es waren dies die Sätze eines politischen Träumers. Mehr von solchem Träumen hätte aber der Politik des zwanzigsten Jahrhunderts nicht geschadet.
Landauers Träume
Womöglich würde ein Gustav Landauer heute von einem guten, von einem besseren Europa träumen – von einem Europa, das Heimat ist nicht nur für die Wirtschaft, sondern für die Menschen, die hier leben; womöglich würde er träumen von einem Europa, das sich verabschiedet von seinem destruktiven Hang zur marktkonformen Demokratie, wie sie in den europäischen Verträgen verankert ist. Zwei Wörter aus dem Grundgesetz könnten der Hebel und die Devise sein, um einen neuen, guten Kurs für Europa einzuschlagen: „Eigentum verpflichtet“. Diese zwei Wörter, diese Erkenntnis, diese Pflicht, die die deutsche Verfassung formuliert, wären ein schönes Geschenk, das das Grundgesetz an seinem 70. Geburtstag an Europa machen könnte. Ein Wahlkampf für ein solches Europa, das sich seiner sozialen Verantwortung bewusst ist, würde mir gefallen.