Vor 75 Jahren begannen die Wehen zur Geburt der Bundesrepublik. Die Demokratie war damals bestürzend unpopulär. Das erinnert an die heutige Stimmung in den neuen Bundesländern.
Von Heribert Prantl
Die Leute hatten damals ganz andere Sorgen als die, wie man Deutschland neu organisiert; sie hatten genug damit zu tun, sich in den Trümmern des Nazireiches zurecht zu finden und sich dort etwas zum Essen zu organisieren. Von den Anfängen neuer deutscher Staatlichkeit nahm daher damals kaum jemand Kenntnis.
Vor genau 75 Jahren begannen die Wehen zur Geburt der Bundesrepublik Deutschland. Es war im Hotel Rittersturz bei Koblenz, dort tagten im Juli 1948 die Ministerpräsidenten der Länder in den drei Westzonen. Sie mussten dem US-General Lucius D. Clay, dem britischen General Sir Brian Robertson und dem französischen General Pierre Koenig eine Antwort geben. Die Vertreter der drei westlichen Besatzungsmächte hatten ihnen am 1. Juli die Frankfurter Dokumente überreicht; diese enthielten den Gründungsauftrag für einen westlichen deutschen Nachkriegsstaat. Die USA, Großbritannien und Frankreich legten Wert darauf, dass sich die Deutschen eine neue Verfassung gaben, in der sie sich nach NS-Verbrechen zur Demokratie und zu den Menschenrechten bekannten.
Die Ministerpräsidenten, die darüber im Hotel „Rittersturz“ tagten, litten Gewissensqualen: Sollte man wirklich eine richtige Verfassung schreiben, mit allem Drum und Dran, mit Grundrechten, mit Regeln für Verwaltung und Regierung, für Gesetzgebung und Gerichte – wo doch Deutschland geteilt war? Man konnte nur für den Westteil des Landes wirken, nicht für den Ostteil: der war von den Russen besetzt, die ihre eigenen Vorstellungen hatten. Die Ministerpräsidenten beschlossen daher, mit Vorsicht, Zurückhaltung und Skepsis ans Werk zu gehen – und keine richtige Verfassung, sondern ein Grundgesetz als Provisorium für eine Übergangszeit zu schreiben, und darüber dann nicht das Volk abstimmen zu lassen, sondern nur die Landtage.
Man wollte zwar ein ordentliches Grundgesetz schreiben, aber dabei nichts so machen, wie es sich für einen richtigen Staat gehörte. Ein Experten-Kollegium, zusammengesetzt aus Vertretern aller Länder der Westzone, sollte als vorbereitender Ausschuss für so ein Grundgesetz tagen. Der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) bot dafür einen idyllisch abgelegenen Verhandlungsort an: Die Herreninsel im Chiemsee. Am 10. August 1948 begannen dort die Beratungen. Ministerpräsidenten Ehard war ein Filou. Bei ihm verband sich damit die Vorstellung, den Einfluss Bayerns auf dem Gang der Dinge „möglichst zu intensivieren“.
Die Öffentlichkeit nahm damals von alledem kaum Kenntnis. Die Schlagzeilen wurden beherrscht erstens von der Währungsreform, mit der ab 21. Juni 1948 die D-Mark alleiniges Zahlungsmittel in den drei Ländern der Westzone geworden war; und sie wurden zweitens beherrscht von der Luftbrücke in das von der Sowjetunion blockierte West-Berlin. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte die Land- und Wasserwege von den Westzonen nach Westberlin gesperrt. Die Luftbrücke stellte die Versorgung des Westteils der Stadt Berlin durch Flugzeuge der Westalliierten sicher.
Die Vorbereitungen zu einem Grundgesetz fanden da wenige Aufmerksamkeit. Es galt als eine Art Klassenarbeit, die die Sieger des Zweiten Weltkriegs den westdeutschen Politikern auferlegt hatten. Bei einer Klassenarbeit tut man sich leichter, wenn man ein wenig abschreiben kann; so war es auch beim Grundgesetz. Die eine Verfassung, die als Grundlage diente, war die Weimarer Verfassung von 1919; die andere war die der revolutionären Deutschen Demokratie aus den Jahren 1848/1849. Darüber hinaus hatten sich etliche der von den Nazis verfolgten Politiker schon während des Krieges Gedanken darüber gemacht, wie das Land künftig regiert werden könnte. Von den Verfassungsexperten, die Hitler und das Nazireich überlebten, hatten nicht wenige ausführliche Notizen zu einer neuen Verfassung in der Tasche. Zwei Wochen lang wurde diese Verfassung, die man Grundgesetz nannte, dann im Konklave von Herrenchiemsee geformt, dann neun Monate lang im Parlamentarischen Rat geschliffen.
Brötchen, Wein und die Demokratie
All das fand damals wenig öffentliches Echo. Die Westdeutschen fügten sich in den neuen Staat wie in ein notwendiges Übel. Er galt als tristes Resultat der trüben Entwicklung der Weltpolitik seit 1945. Er kam, so befand das Streiflicht der Süddeutschen Zeitung damals „als Krüppel zur Welt“, ohne die Beine der Souveränität. Der Streiflicht-Autor hoffte, dass der Krüppel „auf der Krücke des Grundgesetzes“ zu gehen lernt. Doch die einschlägigen Beratungen weckten, so konstatierte es die SZ-Journalistin Ursula von Kardorff seinerzeit, „beim durchschnittlichen Deutschen mehr Gähnen als Leidenschaft“.
Die Speisenfolge der Parlamentarier beschäftigte die Phantasie mehr als alle Grundrechte zusammen. „Und wer die Wahrheit sagt, dass es nämlich nichts als einen guten Wein und ein paar Brötchen gegeben hat“, so ein SZ-Kommentator zum Auftakt der Arbeiten des Parlamentarischen Rats, „wird als Kollaborateur der Demokratie angesehen“. Ein halbes Jahr später wunderte er sich immer noch, „warum die Demokratie, auch nachdem sie im Wesentlichen aufgehört hat, eine Magenfrage zu sein, bei uns im Lande gar so glanzlos und bestürzend unpopulär ist“.
Das fragt man sich heute wieder, 75 Jahre später, wenn man Umfragen aus Sachsen, aus Thüringen oder Brandenburg liest.