Sehr geehrte Damen und Herren,

Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist soeben dreißig Jahre alt geworden. Ich habe mir überlegt, wie ein Adventskalender aussehen könnte, der dieses Ereignis angemessen würdigt: Ein Bild von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten wäre vielleicht nicht schlecht; Josef floh, so erzählt es die Weihnachtsgeschichte, mit seiner Frau Maria und dem Jesuskind vor König Herodes und dessen Todesschwadronen, die das Neugeborene umbringen wollten.

Der Tod ist nicht heimelig

Die Flucht ganzer Familien vor Terror und Gewalt ist in der Welt von heute zigtausendfache Realität. Aber diesem Elend werden die klassischen Gemälde von der Flucht nach Ägypten nicht gerecht, die von Rembrandt oder Adam Elsheimer stammen. Auf Elsheimers Gemälde sieht man die erste naturalistische Darstellung des Nachthimmels in der Kunst der Renaissance. Die Bilder zeigen die Heilige Familie in romantischer, sehr heimeliger Bedrängnis. Heimelig ist aber an der Situation der Flüchtlinge wenig. Der nasse Tod im Mittelmeer ist nicht heimelig. Alan Kurdi fällt mir ein; so hieß der zwei Jahre alte syrische Junge kurdischer Abstammung, dessen Leichnam vor vier Jahren an der türkischen Mittelmeerküste angespült wurde. Die davon veröffentlichten Film- und Fotoaufnahmen erregten weltweites Aufsehen.

Das versohlte Jesuskind

Welches klassische Bild könnte zu den Anliegen der UN-Kinderrechtskonvention passen? Ich denke an ein verstörendes Bild, das Max Ernst 1926 gemalt hat. Es ist wenig weihnachtsgruß-tauglich, es zerschlägt die vertrauten Sujets, es heißt: „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“. Man sieht darauf, wie Maria den Jesusknaben übers Knie legt und ihn versohlt; der Heiligenschein ist schon zu Boden gefallen. Die „drei Zeugen“ der Szene sind der Surrealist André Breton; er blickt gar nicht hin. Der zweite, der Schriftsteller Paul Éluard, hält den Vorgang offenbar für das Natürlichste auf der Welt. Und der dritte Zeuge ist der Maler selbst; er schaut die Betrachter seines Werkes an. Auf diese Weise holt er sie und setzt sie ins Bild: Gewalt kommt in den besten Familien vor.

Missbrauch kommt in den besten Familien vor

Vielleicht ist es diese Erkenntnis, die konservative Politiker immer noch davor zurückschrecken lässt, ein „Kinderrecht“ ins Grundgesetz zu schreiben: Weil Gewalt in den besten Familien vorkommt, so lautet ihre stille Befürchtung, könnte es ja sein, dass auf einmal der Staat in Gestalt des Jugendamts oder gar die Polizei vor der Tür steht, wenn einem, wie man so sagt, „die Hand ausgerutscht ist“. Bei der alltäglichen Gewalt geht es nicht nur um die ausrutschende Hand. Es geht, immer wieder, um Missbrauch.

Die Formulierungen für ein Kindergrundrecht könnte man hinter die Türchen des Adventskalenders schreiben. Hinter dem ersten Türchen stünde: „Der Staat schützt die Kinder“. Hinter dem zweiten Türchen: „Jedes Kind hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Hinter einem dritten Türchen: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, von Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Eine eindringliche Mahnung, Kinder besser zu schützen

Der Satz hinter dem zweiten Türchen entspricht dem Satz, der im Grundgesetz zum Schutz der Mütter formuliert ist. Und der Satz hinter dem dritten Türchen ist identisch mit der Formulierung der UN-Kinderrechtskonvention; er hebt diese in Verfassungsrang. So ein Kindergrundrecht ist zwar kein Schutzmantel, kein Sofortprogramm gegen Gewalt; aber es ist, es wäre eine eindringliche Mahnung an alle staatlichen Gewalten, Kinder besser zu schützen als bisher.

Das Bundesverfassungsgericht hat ein solches Grundrecht der Kinder in seinen Urteilen längst anerkannt – Kinder haben, so sagt das höchste Gericht, Anspruch auf Förderung ihrer Fähigkeiten, auf Entfaltung, auf bestmöglichen Schutz. Aber im Grundgesetz steht davon kein Wort. Der Tierschutz steht in der Verfassung, der Kinderschutz nicht. Das Kindergrundrecht ist immer noch ein ungeschriebenes Grundrecht. Seit über 25 Jahren wird darüber diskutiert. Es sind sehr ordentliche Gesetzentwürfe vorgelegt worden. Passiert ist: nichts, jahrzehntelang nichts.

Der Staat als Obererzieher?

Die Kinder von damals sind längst erwachsen; die Kinder von heute klopfen wieder, wie die Kinder von damals, an die Tür des Grundgesetzes – unterstützt vom Kinderhilfswerk, von Unicef, vom Bundesfamilienministerium. Aber Bundesrat und Bundestag öffnen die Tür nicht. Es ist Zeit, dass die CDU/CSU ihren Widerstand gegen das Kindergrundrecht aufgibt. Er rührt wohl auch daher, dass es eine gewisse Angst davor gibt, der Staat könne sich als Obererzieher aufspielen, sich als eine Art V-Mann ins Familienleben einmischen und auf diese Weise das Wort vom „Vater Staat“ pervertieren.

Aber: Die Rechte der Eltern (die Juristen nennen sie wenig pädagogisch immer noch „elterliche Gewalt“) finden ihre Rechtfertigung darin, dass Kinder Schutz und Hilfe brauchen. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon 1968 so festgestellt; der Staat habe über die Ausübung dieser elterlichen Verantwortung zu wachen und das Kind vor dem Missbrauch der elterlichen Gewalt zu schützen. Die Verfassungskommission zur Änderung des Grundgesetzes nach der Wiedervereinigung hat versucht, diesen Fingerzeig des Gerichts zu beherzigen – und wollte Kinderrechte ausdrücklich ins Grundgesetz schreiben. Das ist damals am Widerstand der Union gescheitert. Das ist auch heute noch so.

Menschen, die besonderen Schutz brauchen

Gegner dieses Kindergrundrechts verweisen auf den Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Kinder sind nicht einfach kleine Menschen. Sie sind Menschen, die besonderen Schutz brauchen. Auch andere Personengruppen sind deswegen im Grundgesetz eigens erwähnt – Menschen mit Behinderungen, Frauen, Mütter; sie sind deswegen erwähnt, weil sie eine besondere Förderung erfahren sollen. Kinder nicht?

Ein gutes Aufwachsen darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen

Drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben in armen Verhältnissen. Ein Kindergrundrecht hätte die Kraft, diesen Skandal zu skandalisieren. Ein solches Grundrecht wäre auch ein Argument für eine Art bedingungsloses Kinder-Grundeinkommen. Warum? Weil ein gutes Aufwachsen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen darf.

Ein Kindergrundrecht – das ist die Mahnung, Kinder ernst zu nehmen. Und es ist, es wäre eine Liebeserklärung der Verfassung an die Kinder. Diese Liebeserklärung könnte hinter allen 24 Türchen des Adventskalenders stehen.

Das wünscht sich

Ihr

Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der SZ


Newsletter-Teaser

Spread the word. Share this post!

Leave a comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert