Guten Tag,

Grundgesetz im Wortsinn ist in Deutschland seit Monaten nicht das Grundgesetz, sondern das Infektionsschutzgesetz. Das wird wohl noch längere Zeit so bleiben. Das Infektionsschutzgesetz ist das Gesetz, welches das gesamte öffentliche und private Leben in Corona-Zeiten begleitet, bestimmt und zwangsläufig behindert. Es ist die Grundlage für Maßnahmen, die zu „beispiellosen Freiheitsbeschränkungen geführt haben“ und bei denen es sich „um die schwersten Eingriffe seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland“ handelt.

Beispiellose Steuerung des Lebens

Das Zitat stammt nicht von mir, das Zitat steht auch nicht in der Anmeldung zu einer der umstrittenen Großdemonstrationen in Berlin, es steht in der ersten umfassenden wissenschaftlichen Veröffentlichung zu den Corona-Gesetzen und Corona-Verordnungen: „Das neue Infektionsschutzrecht“, erschienen soeben im Nomos-Verlag. Herausgeber ist Sebastian Kluckert, Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht an der Bergischen Universität Wuppertal. 18 Fachleute schreiben auf knapp fünfhundert Seiten zu einer Materie, die früher „Seuchenrecht“ hieß und deren wissenschaftliche Aufarbeitung bisher kaum stattgefunden hat, die aber in den vergangenen Monaten ins politische, gesellschaftliche und juristische Zentrum gerückt ist.

Auf den fünfhundert Seiten taucht immer wieder das Wort „beispiellos“ auf. Andreas Fleischfresser, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Köln, schreibt in seiner Abhandlung über die flächendeckenden Verhütungs- und Bekämpfungsmaßnahmen, über „Lockdown“ und „Massenquarantäne“, es handele sich um „eine bislang beispiellose Steuerung des gesamten gesellschaftlichen Lebens“.

Beispiellos – es ist dies ein Wort, das in juristischen Abhandlungen eigentlich eher untypisch ist. Es zeigt aber an, wie außergewöhnlich nicht nur die virologische sondern auch die rechtliche Lage ist.

Grundrechtseinschränkungen: Der Begriff sei, so der Vorsitzende Richter, „durchaus euphemistisch gewählt“. Denn: Es „handelte sich in weiten Teilen um vollständige Verbote, denen nur durch ihre Befristung eine gewisse Milderung zuteil wurde“. Die hiermit verbundenen Rechtsprobleme seien derzeit nicht einmal ansatzweise aufgearbeitet: „Sie können auch nicht mit der Formel ‚Not kennt kein Gebot‘ relativiert werden. Denn im Rechtsstaat bedarf jeder staatliche Eingriff gesetzlicher Legitimation.“

Ausgrenzen, abschreiben?

Das Buch wird wohl in den zuständigen Innen-, Gesundheits- und Schulministerien zu Rate gezogen werden müssen, wenn es den nächsten Wochen und Monaten darum geht, ob und welche Veranstaltungen, Versammlungen und Weihnachtsmärkte stattfinden dürfen.

Pauschalverbote von Versammlungen und Demonstrationen sind – wie sich in Berlin soeben gezeigt hat – juristisch heikel und nicht haltbar. Sie sind auch gesellschaftspolitisch töricht. Pauschalverbote grenzen jedwede Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Maßnahmen aus, sie stellen Kritiker und Demonstranten unter Gefährderverdacht. Das ist nicht gut. Nicht unter den Demonstranten, aber unter den Kritikern sind Leute wie Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe und Juli Zeh, Schriftstellerin und Landesverfassungsrichterin in Brandenburg – und Autoren hochseriöser wissenschaftlicher Abhandlungen über das neue Infektionsschutzrecht.

Die Präsenz der Neonazis und Rechtsextremisten auf den Corona-Demos macht mir allergrößte Bauschmerzen. Ich bin empört und wütend über die Reichskriegsflaggen-Schwenker. Es ist das Kalkül der rechtsextremen Gruppen, sich mit den Sympathisanten der Querdenker zu vermischen und deren Protest zu dominieren. Dieses Kalkül muss durchkreuzt werden: Die Polizei muss sich in Kooperation mit den friedlichen Protestierern Strategien zur Ausgrenzung und Absonderung der unfriedlichen, der volksverhetzenden Rechtsextremisten überlegen. Ein seriöser Corona-Kritiker darf die Präsenz von Neonazis bei seinen Protesten nicht gleichgültig oder gar billigend in Kauf nehmen. Die Proteste dürfen nicht nazifiziert werden. Es darf den Rechtsextremisten nicht gelingen, die Proteste, und sei es nur optisch, zu dominieren.

Abstandsregeln: Notwendig ist auch der Abstand zu Rechtsextremisten

Wenn ich die vielen Mails, die bei mir eingehen, lese – dann erfahre ich, dass unter den Leuten, die protestieren und demonstrieren wollen, auch Anhänger und Mitglieder von SPD, Grünen und Linken sind, auch der FDP und der Union. Ihre Kritik, ihr Protest und ihr Aufschrei sind ernst zu nehmen. Sie müssen sich aber auch selber ernst nehmen – das heißt: Sie müssen die Abstandsregeln umfassend einhalten: Erstens den Abstand, den die Corona-Verordnungen vorschreiben; und zweitens den Abstand von Rechtsextremisten, den die Demokratie vorschreibt. Wenn das in der Masse der Demonstrierenden physisch nicht geht, geht es verbal – indem die Redner sich von braunen Mitläufern distanzieren und sie auffordern wegzubleiben.

Ein zerbrechliches Grundrecht

Die Demonstrationsfreiheit ist ein Ur-Grundrecht. Sie gehört zur Kern-Substanz der Demokratie, auch in Corona-Zeiten. Sie ist das Grundrecht der Unzufriedenen und der Unbequemen. Sie ist auch das Grundrecht der Aufsässigen.

In einer Demokratie darf man unzufrieden sein, unbequem, auch aufsässig sein – solange, solange man sich dabei nicht strafbar macht. Unzufrieden sein, unbequem sein, empört sein, auch aufsässig: man darf das, ja; und man soll das auch zeigen und zeigen dürfen. Das ist keine Verirrung der Demokratie, das ist Demokratie. Aber es gibt Grenzen des Tolerablen. Die verlaufen dort, wo die Gewalt und die Volksverhetzung beginnen.

Die Freiheit der Andersdenkenden

Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden, sagt ein berühmter Satz. Die Freiheit der Andersdenkenden findet in Demonstrationen und Versammlungen ihren Ausdruck. Und diejenigen, die anders denken als die Andersdenkenden, müssen das aushalten. Auch der Staat muss das aushalten. Die Versammlungsfreiheit ist ein zerbrechliches Grundrecht. Es darf durch immer härtere Auflagen und durch Verbote nicht in Scherben fallen. Unmut muss ein Ventil haben, auch in Corona-Zeiten. Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist so ein Ventil.

Wer sich mit Menschenfeinden gemein macht

Das, was aus dem Ventil herauskommt, darf aber nicht giftig sein. Massive Gesundheitsgefährdungen dürfen von einer Demo nicht ausgehen. Versammlungen und ihre Veranstalter müssen sich an maßvolle Auflagen halten. Das gilt auch bei den Anti-Corona-Demos. Aber die Genehmigungsbehörde darf nicht von vornherein davon ausgehen, dass die Regeln nicht eingehalten werden. Wenn das dann wirklich so ist, muss die Demonstration aufgelöst werden, wie das in Berlin soeben zum Teil geschehen ist. Und das darf und muss man den Veranstaltern und den Demonstrantinnen und Demonstranten auch ankündigen. „Alle Deutschen habe das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ So steht es in Artikel 8 des Grundgesetzes. Demonstrationen, die maßvolle Gesundheitsvorschriften maßlos missachten, sind nicht friedlich.

Demonstrationen sind kein Pilzgericht, da ist es ja so, dass ein giftiger Pilz das ganze Gericht verdirbt. Wäre es bei einer Demo so, dass Extremisten, Radikale und Verschwörungstheoretiker, die mitprotestieren und mitdemonstrieren, stets die ganze Demo verderben – dann gäbe es kaum noch eine unverdorbene Demo. Aber die Demonstranten müssen alles Erdenkliche tun, um sich von den Extremisten und Neonazis, von antisemitischen und fremdenfeindlichen Gruppen abzugrenzen. Das ist Demonstrantenpflicht. Wer sich mit Menschenfeinden gemein macht, verliert die Berechtigung, sich als demokratischer Widerständler zu bezeichnen.

Maß und Maßlosigkeit

Aber auch in der Diskussion über Maß und Maßlosigkeit zeigt sich die Kraft des Grundrechts. Diese Diskussionen gehören zu den mittelbaren Wirkungen der Demonstration. Hier entwickelt sich die Energie für den Prozess der demokratischen Öffentlichkeit. Das Demonstrationsgrundrecht ist wie kaum ein anderes auf diese Resonanz angewiesen.

Freuen wir uns, trotz alledem, auf einen schönen Spätsommer und einen bunten Herbst.

Das wünscht sich und Ihnen

Ihr

Heribert Prantl

Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung


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