Guten Tag,

so früh Weihnachten war nie. Es sind noch sechs Wochen bis zum ersten Advent und noch neuneinhalb Wochen bis zum Heiligen Abend. Aber Weihnachten ist schon da – in der Politik, in den Betrieben, in den Ordnungsämtern, in den Gesundheitsämtern natürlich auch. Überall geht es um Weihnachten. Weihnachten war diesmal schon da, als die Lebkuchen und die Schoko-Nikoläuse, wie immer sehr früh, in die Regale der Supermärkte geräumt wurden.

Die große Vorfurcht

Es ist nicht die große Vorfreude, die Weihnachten schon im Oktober zum Thema macht – es ist die große Vorfurcht. Weihnachten wird von Corona zum Hotspot-Fest gemacht und von den Corona-Bekämpfern zum Hotspot-Fest erklärt. Weihnachten ist das Thema in den Corona-Konferenzen bei der Bundeskanzlerin, es ist das Thema in den Corona-Sitzungen der Stadtverwaltungen. Es ist das Thema in den Ordnungsämtern, weil dort die Fragezeichen hinter dem Wort und vor dem Ort „Weihnachtsmarkt“ immer größer gemalt werden. Dreitausend Weihnachtsmärkte gibt es in Deutschland; der größte dieser Märkte, der Nürnberger Christkindlesmarkt, zieht jährlich zwei Millionen Besucherinnen und Besucher an. Muss er wie das Oktoberfest in München behandelt werden?

Wie schafft man Nähe – trotz Abstand?

Weihnachten ist das Thema in den Betrieben, weil dort die Weihnachtsfeiern abgesagt werden. Weihnachten ist das Thema bei den christlichen Kirchen, es ist das Thema in den Sitzungen der Pfarrgemeinden. Wo sollen die Gottesdienste in der Christnacht gefeiert werden: in den Gotteshäusern auf Distanz und mit ganz wenigen Leuten? Oder vor dem Kirchengebäude in der Kälte? Oder im Stadtpark, in Scheunen und Lagerhallen, in Turnhallen vielleicht, im Autokino oder am Baggersee? Irgendwie verteilt auf alle möglichen Lokalitäten und Plätze? Wie schafft man Weihnachtsnähe – trotz Abstand?

Wie schauen die Krippenspiele im Corona-Jahr aus: klassisch, mit Herbergssuche? Und mit einem Wirt, der Maria und Josef herrisch abweist und dabei womöglich einen weißblau-rautierten Mund-Nasen-Schutz trägt? Muss man vielleicht sogar in diesem Jahr das weihnachtliche Lukas-Evangelium ein wenig redigieren, damit es nicht Gelächter gibt bei dem Satz „… weil in der Herberge kein Platz für sie war“?

Open-Air-Weihnachten

Wie also feiert man Weihnachten in Corona-Zeiten? Viel Open-Air? Müssen die Nikoläuse und Weihnachtsmänner unter ihrem falschen Bart einen Mundschutz tragen? Das ist wohl von allen Corona-Problemen das kleinste. Aber: Die Nikoläuse, die von Familie zu Familie gehen, werden von den Ordnungsämtern zur Risikogruppe gezählt werden. Wie viel Distanz braucht, wie viel Distanz verträgt Weihnachten? Womöglich wird Weihnachten zum Fest und zum Anlass, an dem das bisher allgemeine und große Verständnis selbst für unsinnige Corona-Bekämpfungsmaßnahmen endet? Das inflationäre Aussprechen von Reisewarnungen gehört dazu; und der Wirrwarr von Geboten und Verboten, die sich kaum noch jemand merken kann und die sich jede Woche ändern.

Der Lockdown an Ostern ist noch nicht verdaut. Soll er sich, wird er sich an Weihnachten wiederholen? Wie still wird die Stille Nacht im Jahr 2020? In den Kirchen darf, wie es aussieht, nicht gesungen werden, nicht eine Strophe, auch nicht mit Mundschutz. Der Gesang kommt allenfalls vom Chor, und auch der wird in kleine Gruppen zerlegt werden, die dann abwechselnd Chorale singen. Ansonsten wird man auf Instrumentalmusik setzen, drinnen wie draußen.

Back to the roots

Gleichwohl: Die Kirchen sind, wie es aussieht, besser vorbereitet als damals, an Ostern. Bischöfe schreiben Ermutigungsbriefe. Großstadtpfarreien wollen kurze Gottesdienste im Stundentakt abhalten; „Durchlauferhitzer“ wird das Konzept genannt. Andere Pfarreien denken über Advents- und Weihnachtsprozessionen nach und über Straßenandachten.

Viele Kirchengemeinden fühlen sich befreit davon, Business as usual machen zu müssen. Das ist zum Teil der Lerneffekt aus den vergangenen Monaten. Das ist aber auch, so sagen es Pfarrer und engagierte Laien, die Kraft, die aus dem Fest selbst und seinem theologischen Kern entspringt: dass es um Suche nach Herberge geht, um Bedrohtsein, Furcht und prekäre Existenz. Gottesdienst unter freiem Himmel sei da so etwas wie back to the roots. Vielleicht war Weihnachten den gläubigen Christinnen und Christen nie näher.

Die Kirchen, die Politik

Ja, in der Tat: Die Kirchen sind, wie es aussieht, besser vorbereitet als damals an Ostern. Die Politik ist es nicht. Sie hat die Erfahrungen aus dem Lockdown vom Frühjahr nicht richtig verarbeitet und nicht richtig ausgewertet, sie operiert weiter mit dem Instrumentarium von damals, mit Verboten, Betriebsbeschränkungen, Kontakt- und Versammlungsbeschränkungen; der Gesetzgeber ist ziemlich stumm geblieben, er hat es versäumt, für Generallinien bei der Bekämpfung des Virus zu sorgen. Die Exekutive, also Regierung und Verwaltung, bestimmt alles: Die grundrechtseinschränkenden Rechtsverordnungen werden multipliziert; die Grundfrage lautet, „wer im Rechtsstaat welche Entscheidungen mit welchen Wirkungen gegenüber den Bürgern zu treffen befugt ist, und wie diese Entscheidungen demokratisch legitimiert und verantwortet werden müssen“, so Uwe Volkmann, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt am Main.

Merkels Weihnachtsgeschenk

Diese Frage wird nicht gestellt, nicht beantwortet und durch föderalen Wettbewerbsaktionismus ersetzt. Das ist nicht gut. Eine rechtsstaatliche Vorgehensweise wird durch Corona-Psychologie ersetzt. Möglichst scharfe Maßnahmen in der Vorweihnachtszeit – auf dass die Schärfe dann zu Weihnachten, quasi als Merkel-Söder-Weihnachtsgeschenk, wieder etwas gelockert werden kann.

Vor zweitausend Jahren waren, wie die Weihnachtslegende sagt, Hirten auf dem Feld. Da geschahen plötzlich höchst bedrohliche Dinge. Deshalb heißt es in der Geschichte: „Und sie fürchteten sich sehr.“ Diese Angst der Hirten wird an Weihnachten üblicherweise wenig beachtet. Das wird in diesem Jahr anders sein. Und wir werden, begieriger als sonst, fragen, was es bedeutet, wenn der Engel kommt und sagt: „Fürchtet Euch nicht.“

Es schadet nichts, wenn wir über diese Weihnachtsfrage schon im Oktober nachdenken.

Herzlich

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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