Guten Tag,

Christoph Schlingensief war der närrische Heilige und geniale Wüterich der deutschen Kulturszene. Vor zehn Jahren ist er 50-jährig an Krebs gestorben. Die Filmemacherin Bettina Böhler hat zum zehnten Todestag einen Dokumentarfilm über ihn gemacht, der soeben in die Kinos gekommen ist: „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“. In das Schweigen hinein sagt dort Schlingensief den Satz, dass es ihm darum gehe, „in der übertriebenen Situation mehr Wahrheit zu finden“.

Masken-Drama

Die Kollegin Anke Dürr vom Spiegel hat gefragt, welche Wahrheit der Theater- und Filmregisseur Schlingensief hinter den Mund-Nasen-Schutz-Masken der Corona-Zeit entdeckt hätte. Wie sähe wohl, überlegt sie, seine Kunstaktion zur Corona-Pandemie aus? „Welches Masken-Drama hätte er, zusammen mit der Kostümbildnerin Aino Laberenz, seiner Frau, aus dem Paradox gemacht, dass noch vor Kurzem jeder als verdächtig galt, der sich verhüllte, egal ob aus politischen oder religiösen Gründen – und nun jeder eine potenzielle Gefahr ist, der das nicht tut?“

Hätte Schlingensief die Virologen und ihre Kritiker gleichermaßen kritisiert? Welche provokativen Aktionen hätte er inszeniert? Wie hätte er auf die Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen reagiert, bei denen vom „Corona-Regime“ fabuliert und davon geredet wird, dass man das Gefühl hat „alle steckten unter eine Decke. Medien. Politik. Polizei“. Was hätte Schlingensief provozierend übertrieben, um „mehr Wahrheit zu finden“: die Schutzmaßnahmen oder die Rebellion gegen sie? Und welche Wahrheit hätte er in der Übertreibung entdeckt?

Der große Graben

Was ist Wahrheit? Das ist eine Urfrage, die nicht erst in der Corona-Krise virulent geworden ist – aber dort wird sie immer wieder gestellt, dort wird unnachgiebig darüber gestritten, wo und auf wessen Seite sie ist. Der Graben zwischen Befürwortern, Kritikern und Verweigerern von Schutzmasken und sonstigen Anti-Corona-Maßnahmen zieht sich tief durch die Familien. Und jeder redet von Wahrheit. Jede Seite nimmt für sich in Anspruch, die Wahrheit zu sagen und sie auf seiner Seite zu haben.

Was ist Wahrheit? Weil die Frage eine Urfrage ist, muss ich bei der Antwort ein wenig ausholen. Damit sind wir nämlich, so schnell geht das, bei Pontius Pilatus und der Bibel – bei einer Frage, die Theologen, Journalisten und Juristen seitdem gleichermaßen umtreibt. Pilatus hat mit dieser Frage auf die Auskunft von Jesus reagiert, dass er in die Welt gekommen sei, um „Zeugnis für die Wahrheit“ abzulegen. Pilatus sagt darauf „Was ist Wahrheit?“ – und wendet sich ab, ohne eine Antwort abzuwarten. Was klingt hier an? Ein müder oder ein spöttischer Skeptizismus? Desinteresse? Abgeklärtheit? Zynismus?

Zeuge der Wahrheit

In diesem Dialog treffen zwei Verständnisse von Wahrheit aufeinander. Das griechische Verständnis der „Aletheia“ (von lanthano, verbergen), ist „das Unverborgene“. Das biblische Verständnis dagegen rührt aus einer ganz anderen Vorstellung: Wahrheit ist im Hebräischen „‚emeth“. Man kann das Wort nicht einfach mit Wahrheit übersetzen, weil es zur Gruppe der Wörter gehört, die das Begriffsfeld Vertrauen und Treue beschreiben. Es bedeutet Zuverlässigkeit, Beständigkeit, Vertrauenswürdigkeit. Es ist ein Beziehungsbegriff.

„Zeuge der Wahrheit“ sein – das erwartet die Gesellschaft von den Medien, von den Journalisten. Erwartet wird hier zu allererst, dass sie für „Aletheia“ sorgen, dass sie das Verborgene aufdecken, dass sie den Teppich wegziehen, unter den Skandalöses gekehrt worden ist. Der Journalismus soll dubiose Waffengeschäfte enthüllen, er soll aufdecken, wo Reiche und Mächtige ihr Geld verstecken, um Steuern zu sparen, er soll politische Lüge und Korruption aufspüren. Die Wahrheit soll ans Licht. Als, zum Beispiel, die Panama-Papers veröffentlicht wurden, war das so eine Licht- und Sternstunde. Diese Aufdeckungsarbeit aber ist es nicht allein. Aufdeckung geschieht nicht um der Erregung willen, sondern, nehmen wir ruhig dieses Wort, um der Treue zu Demokratie und Rechtsstaat willen.

Die journalistische Wahrheitssuche muss mit Neugier, Urteilskraft und Integrität betrieben werden, sie muss in Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Vertrauen eingebettet sein.

Zu behördennah?

Zwei wissenschaftliche Studien haben nun untersucht, wie es sich damit in der journalistischen Begleitung und Behandlung der Corona-Krise verhält. Die eine Studie stammt vom Schweizer Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) und befasst sich mit der „Qualität der Berichterstattung zur Corona-Pandemie“; sie kommt zwar zu einem tendenziell eher positiven Ergebnis, legt aber den Finger in einige tiefe Wunden, wie sie der Journalistikprofessor Klaus Meier von der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt schon im April beschrieben hat: „zu wenig Einordnung, zu wenig Recherche, zu behördennah“.

Die andere Studie stammt von den Medienforschern Dennis Gräf und Martin Hennig, die an der Universität Passau arbeiten und mehr als 90 Sendungen von „ARD Extra“ und „ZDF-Spezial“ untersucht haben. Die Gräf/Hennig-Studie erhebt den Vorwurf, es werde nicht genügend differenziert; die Sender hätten einen massenmedialen „Tunnelblick“ erzeugt. Schon die Häufigkeit der Sondersendungen vermittle Zuschauern ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario. Die immer wieder gezeigten Bilder kenn man „aus Endzeiterzählungen und Zombiegeschichten“, meinte der Literaturwissenschaftler Gräf. „Sondersendungen wurden zum Normalfall und gesellschaftlich relevante Themen jenseits von Covid-19 ausgeblendet“, fasste Gräf gegenüber der Nachrichtenagentur epd zusammen.

Den Lockdown kommunikativ vorbereitet

Der Schweizer Studie zufolge umfasste in den ersten Märztagen der tägliche Anteil journalistischer Beiträge mit Referenz auf Covid-19 zwischen 20 und 50 Prozent der gesamten Berichterstattung, von Mitte März bis Ende April waren es pro Tag zwischen 50 und 75 Prozent aller Beiträge. Wann je in den vergangenen Jahrzehnten hat ein Thema so dominiert und andere wichtige Themen verdrängt?

Die fög-Studie sagt: Vor allem in der Phase vor dem Lockdown „haben die Medien geholfen, den Lockdown kommunikativ vorzubereiten, aber wenig dazu beigetragen, mögliche Entscheidungen und Folgen des Lockdown im Vorfeld kritisch abzuwägen“. Eine „systematische Auseinandersetzung mit der drastischsten Maßnahme, nämlich einem möglichen Lockdown … findet in den untersuchten Medienbeiträgen nur am Rande statt“.

Vom Früh- zum Dauerwarnsystem?

Zur Pressefreiheit gehört auch die Selbstreflexion. Der Journalismus wird sich daher mit solchen Studien und Analysen befassen müssen. Das gehört zur Zuverlässigkeit, das schafft Vertrauen. Der Eichstätter Journalistikprofessor Klaus Meier meint: „Zumindest Teile des Journalismus sind im anhaltenden Rausch hoher Nutzungszahlen auf dem Weg vom Früh- zum Dauerwarnsystem“. Das wäre nicht so gut. Dies könnte sich für die demokratische Gesellschaft noch als sehr problematisch erweisen. Die Presse ist nicht Lautsprecher der Virologie, sondern der Demokratie.

Gute Sommerwochen wünscht Ihnen

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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