Guten Tag,

der deutsche Föderalismus ist eine Schau. Jedenfalls in den Urlaubsprospekten und den Bildbänden ist das so, durch die man in der Zeit der pandemischen Beschränkungen freilich mit einiger Melancholie blättert. Dieser Föderalismus sieht aus wie die Schlösser des Märchenkönigs, wie der Kölner Dom, wie das Brandenburger Tor und die Kreidefelsen von Rügen. Dieser deutsche Föderalismus schmeckt nach Spätzle und Krabbenbrot. Dieser Föderalismus ist ein anderes Wort für Vielfalt und Multikultur; er redet sächsisch, bairisch oder Platt. Dieser deutsche Föderalismus ist ganz wunderbar, er lebt in den Schützenvereinen, im Heimatstolz und in Heimatkrimis.

Was der Bund verbockt hat, kann das Land nicht retten

In der Politik freilich lebt der Föderalismus nicht so wunderbar; ehrlich gesagt geht es ihm dreckig; und mit seinem Ruf steht es auch nicht zum Besten. Das war schon vor Corona so und mit Corona hat sich das nicht verbessert. Bei Corona werden dem Föderalismus allerdings auch die Dinge angelastet, die der Bund verbockt hat: Der Bund ist schuld daran, dass das Infektionsschutzgesetz so schlecht ist, wie es ist – nämlich, unter anderem, unklar und ungenau.

Werkzeuge ohne Gebrauchsanweisung

Ganz unabhängig davon, wie man zu Ausgangsbeschränkungen, zu Geschäftsschließungen, zu Präsenz- und Distanzunterricht, wie man zu Kontaktbeschränkungen, zu Test- und zu Maskenpflichten steht – wenn diese Pflichten in den einzelnen Bundesländern bisher so verschieden realisiert, eingesetzt, umgesetzt und praktiziert werden, dann liegt das vor allem daran, dass die Vorgaben dafür im Bundesgesetz so ungenau sind. Anders gesagt: Die einzelnen Maßnahmen, die das Bundesgesetz erlaubt, sind zwar scharf und sehr scharf, die Einsatzkriterien für diese scharfen und sehr scharfen Maßnahmen sind aber unscharf. Noch anders gesagt: Der Bund hat jedem Bundesland Werkzeugkästen hingestellt, in denen sich derzeit jeweils eine Vielzahl gefährlicher Instrumente befindet, mit denen sie an den Grundrechten herumschrauben und herumschneiden dürfen. Die Gebrauchsanweisung dafür ist jedoch sehr unzulänglich.

Der Werkzeugkasten ist der Paragraf 28a Infektionsschutzgesetz. Er benennt eine lange Reihe von „umfassenden Schutzmaßnahmen“ als Regelbeispiele, welche von den Landesregierungen per Verordnung angewendet werden dürfen. Paragraf 32 des Infektionsschutzgesetzes erlaubt es den Landesregierungen auch, diese Ermächtigung „auf andere Stellen zu übertragen“. Jede Landesregierung kann also den Werkzeugkoffer mit der ungenügenden Gebrauchsanweisung zum Beispiel an die Landkreise und die kreisfreien Städte weitergeben, die dann auch Rechtsverordnungen zur Grundrechtseinschränkung erlassen dürfen.

Der Flickenteppich: Dass es ab einer bestimmten Inzidenz in dem einen Bundesland Ausgangsbeschränkungen gibt und im anderen nicht; dass es dann in dem einen Bundesland Distanzunterricht gibt, im anderen nicht; dass es dann in dem einen Land „Click &Meet“-Regelungen gibt und im anderen nicht – das liegt daran, dass das alles im Bundesinfektionsschutzgesetz nicht genau genug geregelt ist. Das soll jetzt eilig nachgebessert werden; die Vorgaben werden konkreter und detaillierter. Das ist im Prinzip richtig.

Merkel-Verordnungen?

Die Präzisierung des Infektionsschutzgesetzes ist jedenfalls besser als ein anderer Plan, der auch schon überlegt wurde: Er sah vor, dass die Bundesregierung, also Angela Merkel, alle Corona-Verordnungen gleich selbst erlässt. Damit aber wären die Länder im Bundesrat wohl kaum einverstanden. Und auch dann blieben die Landesregierungen und die Landesverwaltungen für die Ausführung dieser Bundesverordnungen zuständig.

Das spricht nicht gerade dafür, dass die Anti-Corona-Zukunft in Merkel-Verordnungen des Bundes liegt. Die Änderung und Präzisierung des Bundesinfektionsschutzgesetzes sind weit praktikabler. Im Zuge dieser Nachbesserungen und Reformen muss vom Bundesgesetzgeber auch geregelt werden, ob und welche Grundrechts-Einschränkungen künftig für geimpfte Menschen wegfallen. Die Entscheidung darüber kann man nicht dem Gutdünken von Ministerpräsidenten und Landräten überlassen.

Ewiges Knirschen und Knacken?

Zurück zum ganz Grundsätzlichen, zum Föderalismus: Das Wort Föderalismus hat seit geraumer Zeit keinen so guten Klang, obwohl das Prinzip, das der Bundesstaatlichkeit, im Grundgesetz als ewig und unabänderlich verankert ist. Aber in diesem ewigen und unabänderlichen System knirscht und kracht es wie in einem verrottenden Räderwerk. Der Teil des Grundgesetzes, in dem es um diesen Mechanismus geht, zumal der Mechanismus, den die Juristen Exekutivföderalismus nennen, wird immer undurchschaubarer. Würde das Grundgesetz nicht mit dem wunderbaren Grundrechtekatalog, sondern mit dem Regelwerk über die Bund-Länder-Beziehungen beginnen, es hätte sich die Liebe zum Grundgesetz womöglich nie entwickelt.

Der Föderalismus muss sich in der Praxis bewähren, nicht in Festreden. An den Früchten sollt ihr ihn erkennen: Der berühmte Satz aus der Bibel gilt auch für den Föderalismus. Die Früchte sind, wenn es um die Corona-Politik geht, wirklich nicht so, wie sie sein könnten. Man kann sich das ganze geschwollene Gerede über die Vorzüge des Föderalismus sparen, wenn es Bund und Ländern nicht gelingt, die Corona-Bekämpfung befriedigend zu regeln und zu organisieren. Föderalismus – das ist in der Theorie mehr Bürgernähe, mehr Transparenz, mehr Gestaltungsfähigkeit und mehr Demokratie, also ein Wunder. In der Realität, zumal in der Schulpolitik, in der Bildungspolitik und in der Anti-Corona-Politik ist der Föderalismus derzeit kein Zukunfts-, sondern ein Auslaufmodell.

Wenn der Föderalismus zur Qual wird

Wie gesagt, das war schon vor Corona so. Die Schulpolitik war und ist das grausame Vorspiel: Tausende Lehrpläne und Lernkonzepte unterschiedlichster Art, Tausende Fußangeln, Tausende Inkompatibilitäten. Die Fußnoten sind in diesem Bildungssystem wichtiger als die Noten. Der Umzug mit schulpflichtigen Kindern von Bremen nach Stuttgart ist ein hochriskantes Abenteuer. Die Anforderungen an den Gymnasien weichen so voneinander ab, dass Jugendliche besser in Köln bleiben, wenn die Eltern beruflich nach München wechseln. Und ein Juniorprofessor wechselt lieber von Berlin nach Bologna als nach Potsdam; das ist einfacher. Der real existierende Bildungsföderalismus in Deutschland ist ein fortgesetzter Missbrauch des Föderalismus. Er ist eine Qual für Lehrkräfte, Eltern, für Schülerinnen und Schüler.

Was nicht passt und was nicht klappt

Jetzt kulminiert der föderale Verdruss in der Corona-Politik: Fast ganz Deutschland ruft nach Klarheit und Wahrheit und Einheitlichkeit – und gibt dem Föderalismus die Schuld an allem, was einem auch immer an der Corona-Politik nicht passt und was nicht klappt. Das ist nun auch wieder ungerecht. Schuld an den Unklarheiten und Uneinheitlichkeiten ist vor allem der Bundesgesetzgeber: Er hat bisher im Infektionsschutzgesetz den „umfassenden Schutzmaßnahmen“ nur einen sehr groben und wenig spezifizierten Rahmen gesetzt.

Klare Reaktionskorridore

Für die Pandemieverordnungen ist die zentrale Ermächtigungsnorm der Paragraf 32 Infektionsschutzgesetz. Satz 1 ermächtigt die Landesregierungen, durch Rechtsverordnungen „Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen“. Die Landesregierungen haben das auch gemacht, recht unterschiedlich zum Teil. Und es ist dies auch grundsätzlich kein Schaden, weil eine föderal organisierte Pandemiebekämpfung flexibler als eine zentralistische auf lokale Vorbedingungen und auf das regionale Ausbruchsgeschehen reagieren kann. Sie muss aber mit einheitlichen und klaren Vorgaben arbeiten – die der Bundesgesetzgeber im Bundesgesetz erlassen muss. Konkret heißt das: Die Lockerungs-Regelungen und die Notbremsen-Regelungen, wie sie Merkel, die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten Anfang März rechtlich formlos vereinbart haben, müssen präzise und mit bestimmten Reaktionskorridoren ins Infektionsschutzgesetz eingearbeitet werden. So gehört sich das. So funktioniert parlamentarische Demokratie – und der Föderalismus.

Und das Ziel aller Anti-Corona-Maßnahmen muss sein und bleiben, diese Grundrechts-Einschränkungen schnellstens wieder überflüssig zu machen.

Das wünscht sich und Ihnen

Ihr

Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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