Guten Tag,

die Geschichte, mit der ich heute meinen Newsletter beginne, ist aus der Zeit gefallen. Sie ist schon deswegen aus der Zeit gefallen, weil es sich, gut drei Monate vor der Zeit, um eine Weihnachtsgeschichte handelt. Aber immerhin steht übermorgen, am 8. September, schon einmal „Mariae Geburt“ im Kalender, und da fliegen bekanntlich „alle Schwalben furt“. Und Corona hat so viel durcheinandergebracht, so viel vom bisher Gewohnten geändert und so sehr an unseren Routinen und Ritualen gerüttelt, dass es vielleicht gar nicht so irritierend ist, wenn „Prantls Blick“ heute, vermeintlich zur Unzeit, auf eine Weihnachtsgeschichte gerichtet ist.

Wo Heimat ist

Es ist eine Geschichte von Selma Lagerlöf, sie heißt „Die Heilige Nacht“, und es ist nicht nur eine Weihnachtsgeschichte, sondern eine Heimatgeschichte: Sie beschreibt nämlich auf einfache und berührende Weise, was und wo eigentlich Heimat ist – Heimat ist da, wo einem die Menschen, die Tiere und die Dinge freundlich entgegenkommen; Heimat ist da, wo einem die Welt vertraut ist oder vertrauenswürdig begegnet und wo das potenziell Gefährliche nicht gefährlich ist.

Selma Lagerlöfs Geschichte erzählt von einer Nacht, in der die Hunde nicht beißen und die Schafe nicht erschrecken, in der die Lanze nicht tötet und glühende Kohlen nicht verbrennen; der Vater des neugeborenen Kindes kann die Kohlen mit bloßen Händen nehmen und in seinen Mantel legen, ohne ihn zu versengen. Er will mit dem Feuer Frau und Kind wärmen. Die Geschichte erzählt von einer Nacht, in der die Menschen und die Dinge keine Gefahr darstellen und einem zugeneigt sind. Das ist Heimat.

Die Pandemie ist die Geschichte des Gegenteils. Corona ist Entheimatung. Corona hat eine andere Beziehung zu den Mitmenschen hergestellt; die sind eine potentielle Gefahr; man geht daher auf Abstand zu ihnen, man schützt sich vor ihnen, man begegnet ihnen mit Maske, man vermeidet Kontakt, sei es beim Einkaufen, beim Wandern im Wald oder beim Joggen im Park. Wenn einer an der Supermarktkasse zu nahe an uns herantritt, werden wir nervös. Und man selbst spürt böse Blicke, wenn man sich auf Unbekannte zubewegt.

Ellenbogengesellschaft

In der westlichen Kultur war das Händeschütteln ein Ritual, um anfängliche Unsicherheit zwischen zwei Menschen zu überbrücken, zeigt es doch dem anderen: Sieh, ich trage keine Waffe in der Hand. Noch kürzlich erhob sich heftige Empörung, als Muslime aus religiösen Gründen Frauen den Handschlag verweigerten. Die Handschlags-Rituale sind entfallen. Die einen meiden jeden Körperkontakt. Die anderen suchen einen Ersatz für das Händeschütteln, sie stoßen sich mit den Ellenbogen – und machen ungewollt die alte Rede von der Ellenbogengesellschaft anschaulich.

Corona hat nicht nur eine andere Beziehung zu den Mitmenschen hergestellt. Corona stellt eine andere Weltbeziehung her. Corona macht nämlich Flächen zu Angriffsflächen, die Tiere zu Virenträgern, die Dinge zu Bedrohungen. Sie werden zu Gegenständen, die man zuvor behandeln, also desinfizieren muss. Heimat aber ist da, wo ich eine unmittelbare Beziehung zu den Dingen habe. Zwischen diese Unmittelbarkeit tritt die Desinfektion, tritt der Abstand. Die Dinge werden in der Corona-Perspektive zu Objekten des Virus. Das Virus ist das Subjekt, das sich ihrer bemächtigt. Die Welt wird fremd.

Das Verschwinden von Geselligkeit und Unbefangenheit

Corona ist die Entfremdung von bisherigen Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten. Die alten Unbefangenheiten sind verschwunden, weil Geselligkeit jetzt Gesundheit gefährdet und daher zu Feindseligkeit führt; Sorglosigkeit bei Sport und Spiel gibt es nicht mehr. Corona ist – die Vertreibung aus dem gewohnten Alltag.

Das ist Entfremdung, das ist Entheimatung. Sie wird begleitet von Denunziation, die sich gegen die richtet, die diese Entheimatung nicht akzeptieren wollen und daher an den alten Gewohnheiten festhalten. Sie wird begleitet von Wörtern wie „Reproduktionszahl“ und „Übersterblichkeit“. Maske, Hygiene- und Abstandsregeln stoßen deshalb auf so viel Akzeptanz, weil sie vielen Menschen das Gefühl geben, in der Unsicherheit selbst wenigstens für ein gewisses Maß an Sicherheit sorgen zu können.

Dieses gewisse Maß an Sicherheit wird wegfallen, wenn es zu einem zweiten Lockdown kommt – weil, wie der Münchner Psychologe Johannes Schauer meint, sich dann das Gefühl verstärkt, selber nichts tun zu können, damit die Situation besser wird.

Home-Office als unzuträgliche Überdosis

Anlass für all diese Überlegungen ist der „Tag der Heimat“, der am ersten Sonntag im September begangen wird. An diesem Tag und in Veranstaltungen der nachfolgenden Wochenenden erinnern die Verbände der Vertriebenen an ihre nach dem Zweiten Weltkrieg verlorene Heimat. Die Sudetendeutschen, die Pommern, die Ostpreußen erinnern an ihre physische Vertreibung, ihre Vertreibung von Haus und Hof, an ihre Vertreibung aus dem gewohnten Leben. Man erinnert sich an Entheimatung und daran, wie es gelangt, neue Heimat zu finden.

Neue Heimat in Corona-Zeiten? Es gibt nicht wenige Menschen, die in den Zeiten des Lockdowns und des Home-Office ihre Familie als Heimat neu entdeckt haben. Es gibt aber auch die, das das Homeoffice und den Shutdown als unzuträgliche Überdosis und als fast schon haftähnliche Situation erlebt haben. Es gibt die Beamten, denen, Corona hin oder her, die monatlichen Bezüge garantiert sind. Und es gibt die Wirte und Restaurantbesitzer, die die Zahlungsaufforderungen und Mahnbescheide in ihrem Briefkasten finden. Die Entheimatung durch Corona wird auf sehr unterschiedliche Weise erlebt. Der eine hat viel, der andere wenig Anlass, bei einer Corona-Demo mitzugehen. Der Kollege Reinhard Bingener von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung meint daher, es spreche „im Politischen wie im Privaten vieles dafür, den eigenen Eifer im Zaum zu halten und die persönliche Risikoeinschätzung nicht zum allgemeinen Maßstab zu erklären“.

Das Reizklima abbauen

Wie findet man neue Heimat in Corona-Zeiten? Das beginnt damit, die Spaltung der Gesellschaft und die Schwarz-Weiß-Malerei zu überwinden. Der Würzburger Soziologie-Professor Andreas Göbel rät beispielsweise dazu, bei der Betrachtung der Corona-Demonstrationen zu differenzieren, weil es innerhalb dieser Bewegung ganz unterschiedliche Motivlagen gibt: „Das reicht von der pauschalen Anti-Establishment-Kritik, in der der Staat als Unterdrückungsmaschinerie adressiert wird, bis hin zur durchaus berechtigten Frage nach der Plausibilität der politischen Maßnahmen.“

Er warnt davor, pauschal von Spinnern und Verschwörungsgläubigen zu reden: „Die Art und Weise, wie massenmediale Berichterstattung ständig moralisiert, also die Guten von den Bösen unterscheidet“, so warnt der Soziologe, „tut dem Gesamtklima in keiner Weise gut“. Heimatpolitik in Corona-Zeiten besteht also darin, das Reizklima abzubauen. Im Moment geschieht die Umkehrung der Geschichte von Lagerlöf: Es werden hin und her bissig Hunde ausgeschickt, spitze Lanzen geworfen und glühende Kohlen verteilt. Das ist gefährlich.

Die Veränderung der Kindheit – und ihre Folgen

Heimat. Die Kindheit ist der Ort, der ganz vielen einfällt, wenn sie gefragt werden, was für sie Heimat ist. Kindheit ist erste Heimat. Die Fragen, die ich mir und die ich Ihnen stelle, lauten: Was richtet Corona in der Kindheit der Kinder an und damit in ihrem späteren Leben? Was bedeutet die Distanz zu Menschen, Tieren und Dingen, die ihnen das Virus auferlegt, für ihre Beheimatung in der Welt?

Schöne Herbsttage, trotz alledem, wünscht Ihnen

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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