Guten Tag,
in der Corona-Krise haben mir Leute gesagt und geschrieben: „Übertreiben Sie es nicht mit Ihrem dauernden Rumreiten auf Demokratie und Grundrechten, lieber Prantl!“ Ich habe geantwortet: „Kann man es als Demokrat mit der Demokratie übertreiben?“ Ein guter Bekannter meinte zu den Grundrechtseinschränkungen, dass einst mein Oberpfälzer Landsmann Hermann Höcherl als Bundesinnenminister im Kabinett von Konrad Adenauer schon recht gehabt habe mit seinem Satz, dass seine Beamten „nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“ könnten.
„Ob sie es unterm Arm tragen“, habe ich geantwortet, „ist mir gleich. Aber im Kopf und im Herzen müssen die Politiker und ihre Beamten das Grundgesetz haben, wenn es darum geht, Kontaktsperren und Betriebsschließungen vorzuschreiben, durchzusetzen und wieder aufzuheben“. Und: Auch aus berechtigter Sorge darf man nicht „etwas außerhalb der Legalität“ handeln, wie Höcherl seinerzeit die Rechtsbrüche in der Spiegel-Affäre zu beschwichtigen versuchte.
„Die nächste Bundestagswahl ist doch erst“, so meinte da ein Freund zu meinen Sorgen über eine schrumpfende Demokratie, „im Herbst 2021. Und bis dahin ist längst ein Anti-Covid-19-Impfstoff gefunden, bis dahin ist die Corona-Krise, selbst wenn sie ganz lange dauert, Vergangenheit“.
Demokratie ist mehr als eine Urne
Wer so redet, der hält die Demokratie für eine Kiste: 90 Zentimeter hoch und 35 Zentimeter breit; oben hat diese Demokratie einen Deckel mit Schlitz – und alle paar Jahre, in Deutschland immer an einem Sonntag, kommen viele Leute zu diesen Kisten. Die Kisten heißen „Urnen“. Das ist eigentlich ein merkwürdiger Name, denn die Demokratie wird ja an diesen Wahltagen nicht verbrannt und beerdigt. Im Gegenteil: Sie wird neu geboren, sie muss dann genährt werden, gefördert, ausgebildet, sonst stirbt sie. Sie braucht den Gebrauch und die Anwendung. Sie muss bewegt werden, sonst geht es ihr wie einem bettlägerigen Patienten: Die Gelenke werden steif, die Muskeln schlapp, und wenn der Patient nicht mobilisiert wird, kommt er nicht wieder auf die Beine.
Videokonferenzen – keine wirklichen Begegnungen
Demokratie ist sehr viel mehr als eine Wahl. Eine richtige Demokratie findet an jedem Tag statt, sie findet statt im mühsamen Begründen, Streiten und Aushandeln – wenn, ja wenn nicht gerade Corona und also das Sich-Versammeln schwer ist, das Demonstrieren auch. „Teams“ und „Zoom“ und Videokonferenzen werden im Moment gefeiert. „Endlich!“ sagen viele, „endlich kommen die Leute darauf, dass man Verhandlungen auch via Bildschirm führen kann“. Aber je länger das währt, umso mehr wird auch spürbar, dass diese Art der Diskussion kein Ersatz ist, sondern ein Behelf. Videokonferenzen sind keine wirkliche Begegnung. Dazu gehört das Nebengespräch mit dem Nachbarn, die Verständigung über Blicke und Gesten, das informelle Gespräch in der Pause.
Demokratie stellt nicht soziale Distanz her, Demokratie will soziale Distanz überwinden. Der neunmalkluge Einwand, dass man den Lockdown nicht Social Distancing, sondern Physical Distancing nennen sollte, ist ebenfalls ein Behelf – es ist der wohlmeinende Versuch, den sozialen Verlust begrifflich zu verharmlosen. Eine Demokratie leidet an Ausgangsbeschränkungen, an Kontakt- und Versammlungsverboten, so notwendig solche Verbote kurzfristig auch sein mögen. Der Satz „Not kennt kein Gebot“ ist ein Satz, der nicht zu einer Demokratie und nicht zu einem Rechtsstaat passt. Auch die Not kennt Gebote: Sie sind in den Grundrechten formuliert.
Verschwörungstheorien sind keine Theorien, sondern Idiotien
Heute, in Corona-Zeiten, treiben leider Heuchler mit dem Wort „Grundrechte“ Schindluder. Es beschwören auch solche Leute die Grundrechte, die diese Grundrechte sonst verlachen und verhöhnen. Rechtsextremisten tun so, als müssten sie, ausgerechnet sie, jetzt die Grundrechte schützen. Flankiert werden sie dabei von allerlei Spintisierern, die mit dem Etikett „Verschwörungstheoretiker“ beklebt werden, obwohl es sich bei ihren Anschauungen gerade nicht um Theorien handelt, nicht um Thesen, die aus denkender Anschauungen gewonnen werden, sondern um Phantasmen, die im undurchsichtigen Nebel von Vorurteilen, Lügen, Halbwahrheiten, Ängsten und Ressentiments entstehen. Sie alle versuchen, ihre Idiotien dadurch zu adeln, dass sie sich als Verteidiger der Verfassung tarnen.
Je verrückter, desto mehr Klicks
Aber das Grundgesetz ist kein Kostümverleih, ein Grundrecht ist kein Tarnanzug. Ein Grundrecht wie das der Versammlungsfreiheit kann sich nicht wehren. Auch nicht dagegen, dass Leute mit absonderlichsten Ideen, wie Attila Hildmann, ein veganer Koch, der auf Facebook in die Welt schreit: „Die Olympia Eröffnungszeremonie 2012 war ein Corona Ritual!“, in den Hitlisten des Internets ganz oben stehen. Diese Leute behaupten, dass die Strahlen des neuen 5G-Handy-Netzes für Covid-19 verantwortlich seien. Oder dass Bill Gates das Corona-Virus in die Welt gesetzt und die WHO gekauft habe, um sich dann mit dem Impfstoff zu bereichern. Je verrückter, desto mehr Klicks. Man darf allerdings vermuten, dass ein Teil der Aufrufe solcher Seiten nicht von Anhängern stammt, sondern von Neugierigen, die im großen Hype um die Verschwörungsidiotien auch mal schauen wollen, was so an Verrücktheiten und Scheußlichkeiten im Angebot ist – so wie die Leute Anfang des 20. Jahrhunderts in die Freakshows der Jahrmärkte strömten, um „die erstaunlichsten Ungeheuer aller Zeiten“ zu sehen.
Man kann den Kopf schütteln, bis er abfällt
Gerade über die so genannten Verschwörungstheoretiker kann man sich jetzt herrlich aufregen, sie medial aufblasen. „Ist es nicht schrecklich? Ja, es ist schrecklich“, kann man sich empören und seine eigene Aufgeklärtheit beweisen und ein gutes Gewissen haben, weil man selbst nicht auf Grundrechts-Demos geht. Man kann sein ganzes Repertoire an Ironie über die Idiotie abspielen, man kann das Spintisieren analysieren und sich distanzieren, man kann die Verschwörungsphantasmen zum x-ten Mal als den Versuch demaskieren, einfache Lösungen zu finden und solche beeindruckenden Wörter wie „Komplexitätsreduktion“ anbringen. Man kann über die kursierenden Hirngespinste über Bill Gates den Kopf schütteln, bis er abfällt.
Aber: Man sollte bei aller Empörung darüber nicht ganz vergessen, was wahrlich ein Grund zur Empörung angesichts einer Pandemie sein könnte. Wahr ist nämlich, dass die WHO ohne einen Mäzen wie Bill Gates finanziell am Ende wäre, weil die Staaten zu wenig Beiträge zahlen und die USA die Zahlungen völlig gestoppt haben. Letzteres ist wirklich ein Grund zum Demonstrieren.
Die plötzliche Grundrechtsliebe der Extremisten – und was der Grund dafür ist
Die berechtigte und die herbeigeredete Aufregung über die Verschwörungsphantasten überlagert die notwendige Diskussion über die Einschränkungen von Grundrechten; und die Diskussion über die Einschränkungen von Grundrechten leidet darunter, dass Grundrechtsmissachter wie die AfD auf einmal die Grundrechte in den höchsten Tönen loben. Noch einmal: Die AfD ist eine Partei, in der Grundrechte wenig gelten. Auf Versammlungen dieser Partei wird vor Begeisterung gejohlt, wenn Nazi-Verbrechen verharmlost, Juden verhöhnt, Muslime verachtet und Gemeinheiten über Flüchtlinge gesagt werden. Wenn sich ausgerechnet eine solche Partei, wenn ausgerechnet diese und andere Verfassungsverächter sich jetzt zu Verteidigern der Grundrechte aufwerfen, ist das fatal. Ein Grundgesetz, das solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Aber vielleicht kann man in der plötzlichen Grundrechtsliebe der Partei auch ein Indiz sehen für ihre berechtigte Angst vor Bedeutungsverlust, also eine Verfallserscheinung.
Warum viele gute Demokraten sich scheuen, auf die Straße zu gehen
Viele gute Demokraten sind jedenfalls zutiefst verunsichert, vielleicht genieren sie sich auch: Sie sehen, dass die Grundrechte leiden, wollen aber nicht auf die Straße gehen, wollen lieber Abstand halten, was ihnen nach ihrem eigenen Selbstbild aber gar nicht so gut steht. Ist da die Fixierung auf die Verschwörungsidioten womöglich auch eine Art Kompensation des eigenen Unbehagens über die restriktiven Anti-Corona-Maßnahmen und eine Kompensation der Gewissensbisse, weil man diese Maßnahmen einfach brav hinnimmt?
Warum man Mut und ein dickes Fell braucht
Man darf die Verfassung, man darf die Grundrechte, man darf die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit nicht mit Gauland und Co. alleine lassen. Dazu braucht man, je größer die Empörung über die Verschwörungsschwafler wird, umso mehr Mut. Wer jetzt das Wort ergreift, braucht ein dickes Fell, weil er aushalten muss, als „auch so eine/r“ einsortiert und beschimpft zu werden. Man sollte, man darf bitte die Reden auf den Demos jetzt nicht Verschwörungsfreaks und Konsorten überlassen, die nur zu gern auf der Bühne stehen. Das ist mein Appell an die Organisatoren, das ist auch ein Appell an die, die sich jetzt bange machen lassen, das zu sagen, was zu sagen ist.
Warum Krach schlagen wichtig ist – und welche Demonstrationen notwendig sind
Ob mit oder ohne Demonstrationen: Die Parlamente und die Gerichte müssen intensiv über Grundrechtseinschränkungen und ihre Aufhebung in den Zeiten der Pandemie beraten und urteilen. Diese Beratungen, diese Urteile müssen der Ausgangs- und Fixpunkt für breite Diskussionen in der Öffentlichkeit sein, an der sich auch die großen Verbände und Einrichtungen der Zivilgesellschaft beteiligen – also etwa die Gewerkschaften, die Wohlfahrtsverbände, die Religionsgemeinschaften. Wir brauchen Demonstrationen, vielleicht gar nicht so sehr solche, die allgemein „für die Grundrechte“ und fürs Demonstrieren demonstrieren. Wir brauchen Mahnwachen, wie sie etwa der katholische Pfarrer Peter Kossen vor der Firma Westfleisch in Coesfeld abgehalten hat. Das sind die Demonstrationen, die bitter notwendig sind: gegen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, die an Sklaverei grenzen. Hier lernt man, dass die Beachtung von Grundrechten (hier: die Einhaltung von guten Arbeitsbedingungen) dem Schutz vor Corona dient. Und man wird erinnert, dass all die Probleme, die die Menschen vor der Pandemie auf die Straße getrieben haben, durch das Virus nicht erledigt sind, sondern vielfach verschärft werden. Es braucht weiterhin Menschen, die ihretwegen öffentlich Krach schlagen.
Das Beste, was wir haben
Gewiss: Die Grundrechte gelten auch für Leute, die für anderes demonstrieren, sie gelten auch für Radikale und Extremisten, sie gelten auch für Leute, die Corona für eine Erfindung halten. Das Grundgesetz schützt ja nicht nur gute und demokratisch wertvolle Meinungen. Es schützt auch das Abseitige und das Abstruse. Aber: Man darf die Grundrechte nicht mit den Verfechtern des Abstrusen allein lassen. Die Grundrechte sind das Beste, was wir haben – sie sind die Grundordnung der Gesellschaft. Wir brauchen den Mut zu ihrer Verteidigung auch in bitteren und bizarren Zeiten.
Vor einem Jahr haben wir gefeiert und die Grundrechte gepriesen. Wir haben uns, zum siebzigsten Jubiläum des Grundgesetzes, an dessen Mütter und Väter erinnert – an wunderbare Demokraten wie Elisabeth Selbert und Carlo Schmid, an Widerstandskämpfer gegen Hitler wie Hermann Louis Brill und Jakob Kaiser. Als sie die Grundrechte formuliert haben, lag Deutschland in Trümmern, in Schutt und Elend. Der Katalog mit den Grundrechten entstand in einer Welt voller Unsicherheit. Hunderttausende „displaced persons“ zogen damals durchs Land, ansteckende Krankheiten grassierten. Die Grundrechte sollten Sicherheit geben in einer Welt der Unsicherheit. Es war und ist nicht gut, wenn nun, 71 Jahre später, in der Corona-Krise, die Aussetzung dieser Grundrechte Sicherheit geben soll.
Eigenverantwortung stärken, nicht denunzieren
Eine gute Zukunft haben wir nur dann, wenn uns eine bürgerschaftliche Demokratie gelingt – auch in Corona-Zeiten. Das ist eine Demokratie, die die Verantwortung für die Demokratie und Gesellschaft nicht bei den Parlamenten, bei der Regierung, der Verwaltung oder bei den Virologen abgibt, so notwendig deren Sachverstand auch ist. Eine gute Demokratie muss auch an die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger glauben, sie muss diese Eigenverantwortung stärken und nicht denunzieren; eine gute Demokratie traut der Vernunft ihrer Bürger.
Den Mut zur Hoffnung in Corona-Zeiten wünscht Ihnen von Herzen
Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung