Das junge alte Europa ist bedroht wie noch nie in seiner Geschichte. Es braucht neue Stärke, es braucht die Kraft, den Frieden zu erhalten.

Von Heribert Prantl

Vor zehn Jahren, im Jahr 2012, hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten. Es war ein Preis an alle Menschen in Europa, es war eine Anerkennung für viele Jahrzehnte Frieden, Versöhnung und Demokratie. Es war ein Preis mit dem Auftrag, den Frieden in Europa dauerhaft zu sichern. Es ist dies aber, wie sich jetzt in der Ukraine zeigt, nicht gelungen. Es ist nicht gelungen, einen kriegslüsternen Wladimir Putin vom Krieg abzuhalten.

Die EU war und ist politisch zu schwach. Es fehlt ihr die große Friedenserhaltungspotenz. Von den „Vereinigten Staaten von Europa“, von denen die Gründerväter Europas träumten, ist die EU weit weg. Winston Churchill hat einst diesen Begriff als Garant für den Frieden bekannt gemacht: 1946, der Kontinent lag in Trümmern, hielt Churchill seine Europa-Rede in der Aula der Universität Zürich. „Schafft die Vereinigten Staaten von Europa!“ lautete dazu der Aufmacher in der Süddeutschen Zeitung. Der Franzose Jean Monnet, der Ehrenbürger Europas, hat unermüdlich und vergeblich für diese Vereinigten Staaten von Europa geworben. Vielleicht ist Putins Krieg ein Push für ein Vereinigtes Europa, vielleicht, hoffentlich, ist er ein Antrieb, vielleicht schafft er das Momentum.

Als der Industrielle Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits, kurz vor seinem Tod sein ganzes Vermögen in die Nobelpreis-Stiftung steckte, glaubte er an die Vernunft der Regierenden und daran, dass immer schrecklichere Waffen sie vom Krieg abschrecken würden. Er meinte daher, dass man den Friedensnobelpreis gar nicht mehr so oft verleihen müsste: Sechsmal, im Abstand von fünf Jahren, so meinte er, dann sei alles klar – dann sei die Welt entweder in der Barbarei versunken oder endlich beim „Ewigen Frieden“ angelangt, von dem Immanuel Kant 1795 in seiner berühmten Schriftgeschrieben hatte. 1901 wurde dann der Friedensnobelpreis erstmals verliehen. Hätte Nobel recht behalten, dann hätte das Thema Krieg dreißig Jahre später erledigt sein müssen. Aber gut dreißig Jahre später begann Adolf Hitler gerade damit, die Welt in die Großkatastrophe zu stürzen.

Die Europäische Einigung war die große Antwort auf diese Katastrophe – sie war, sie ist ein Friedensprojekt. Das „europäische Kleinstaatengerümpel“, wie Adolf Hitler es verächtlich genannt hatte, tat sich zusammen und überwand die gut gepflegten Animositäten, den alten Nationalismus und die uralten Feindschaften. Es entstand erst die EWG, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; es entstand dann die EG, die Europäische Gemeinschaft; es entstand schließlich die EU, die Europäische Union.

„Fuck the EU“? Das Friedensprojekt ist ins Stocken geraten

Die Europäischen Verträge sind die Ehe- und die Erbverträge ehemaliger Gegner und Feinde. Das Europa, das sie konstituieren, ist die Verwirklichung so vieler alter Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht haben. Es ist ein welthistorisches Friedensprojekt. Aber das Projekt stockt, es entwickelt sich seit Jahren nicht wirklich weiter, die alten Nationalismen standen wieder auf, die einigende Kraft fehlt. Schon die Ukraine-Krise von 2014 hatte gezeigt, wie nötig es wäre, eine eigenständige und starke EU-Außenpolitik zu entwickeln. „Fuck the EU“, rief damals die US-Diplomatin Victoria Jane Nuland ins Telefon. Es war ein Telefonat mit Geoffrey R. Pyatt, dem US-Botschafter in der Ukraine. Die EU ist nicht stärker geworden seitdem.

Das junge alte Europa ist bedroht wie nie in seiner noch kurzen Geschichte. Putin stellt eine Friedensordnung in Frage, die zu wenig gefestigt und zu wenig gesichert ist. In den vergangenen zehn Jahren haben wir nicht ein Europa erlebt, dass sich immer stärker zusammenschließt, das den Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa mit Entschlossenheit geht. Wir haben das Gegenteil erlebt: den Austritt Großbritanniens aus der EU und einen neuen nationalistischen Wahn – der aus dem neuen Europa wieder das alte machen will, es wieder zerstückeln und die Stücke bewachen will. Die neuen alten Nationalisten betrachten Europa als parzellierte Landkarte und stecken in die Felder ihre Fahnen und Namensschilder. „Take back control“ nennen sie das. Ein solch zerstückeltes Europa muss ein Putin nicht fürchten. Er nimmt es nicht einmal richtig ernst. Die Anti-Europäer sind die Zuarbeiter Putins.

Die osteuropäischen Länder, die bisher nicht bereit waren zur Aufnahme von Geflüchteten, werden sich jetzt, nach der russischen Invasion in der Ukraine, nicht mehr entziehen können, ihre geflüchteten Nachbarn aufzunehmen. Sie werden dabei auf die Unterstützung Europas angewiesen sein. Vielleicht ist auch das ein Anstoß zu einem Bewusstseinswandel.

Die Nationalisten nehmen ihren Ländern die Zukunft

Nationalisten werden die Leute genannt, die die Sehnsucht nach einem starken Europa für eine Krankheit halten und die zur Heilung von dieser Krankheit „Frankreich zuerst“ oder „Polen zuerst“ rufen. Diese Rufer sind aber keine Nationalisten, sondern in Wahrheit Anti-Nationalisten, weil sie ihrem Land die Zukunft nehmen. Europa ist ein anderes Wort für Zukunft, trotz seiner bisherigen Konstruktionsfehler, trotz seiner demokratischen und sozialen Defizite. Europa ist etwas anderes als die Summe seiner Fehler.

Das starke, das vereinigte Europa, das aus dieser Union werden muss, ist der letzte Sinn einer unendlich verworrenen europäischen Geschichte. Der kriegerische Wahnsinn des Wladimir Putins muss zu dieser Erkenntnis führen. Es ist hoffentlich nicht zu spät.

 


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