Guten Tag,

in der Hamburger Speicherstadt und in vielen anderen Großstädten weltweit gibt es Ausstellungen, die „Dialog im Dunkeln“ heißen. Es sind dies Ausstellungen, in denen sehende Menschen zu blinden Menschen werden. Die eigentlich sehenden Menschen gehen, geleitet von blinden Menschen, durch stockdunkle Räume. Am Eingang erhalten sie einen Blindenstock; dann geht es durch einen Vorhang hinein ins schwarze Nichts.

Der Radius des Blindenstocks

Man sieht nicht, wie groß die Räume sind. Man sieht nicht, ob sie Ecken haben. Man sieht nichts von der schwankenden Holzbrücke, über die man gehen soll. Man sieht nichts vom Wald und nichts von Bäumen. Der Stock verfängt sich in Blätterwerk, man ertastet einen Stamm, spürt erst Moos und später Kies unter den Schuhen. Man sieht nichts von der lauten Straße, die es zu überqueren gilt; auch nichts vom Markt, über den man dann tappt; man riecht ihn nur, man riecht den Kaffee, man riecht das Obst, man riecht die Gewürze. Man tastet sich an Mauern, an Hauseingängen und an der eigenen Hilflosigkeit entlang. Es ist, als schrumpfe die Welt auf den Radius des Blindenstocks; man ist ein Blindgänger.

Die bekannte Welt ist auf einmal so fremd

Eingehüllt von Alltagslärm klammert man sich an die beruhigende Stimme von Matthias, dem Guide, der einem sagt, wo es lang geht und der die Leute ermuntert, sich frei im Raum zu bewegen. Die Dunkelheit macht ihm nichts, er ist sie gewohnt, er ist blind; behindert sind jetzt die anderen, die die Dunkelheit nicht kennen; sie erleben zum ersten Mal, wie es ist, nichts zu sehen, nicht einmal die Hand vor den Augen. Sie sind bestrebt, körperlichen Kontakt zum Nachbarn zu halten: Dialog im Dunkeln. Manche sind versucht, die Beklemmung, die sie spüren, durch Kalauerei zu vertreiben; es gelingt nicht. Die bekannte Welt ist auf einmal so fremd. Es ist sehr beklemmend, es ist erschreckend, sich so hilflos zu fühlen.

Wie lange dauert die Finsternis?

Die Erfahrungen, die die Besuchergruppen in der Ausstellung machen, macht in der Corona-Krise die Gesellschaft global und real: Sie tappt mit dem Blindenstock durch die plötzliche Finsternis. Sie weiß aber nicht, anders als in den Ausstellungsprojekten, wie lange diese Finsternis dauert und wie sie endet. Die Gesellschaft weiß auch nicht, ob und wie weit man den Guides, die einen führen, also den Virologen und den Politikern trauen kann – die anders als die Guides in „Dialog im Dunkeln“ keinen Erfahrungsvorsprung haben. Viele Menschen suchen in ihrer Angst eigentlich Nähe, sind aber amtlich gehalten, auf physische Distanz zu gehen.

Der „Dialog im Dunkeln“ ist ein sozial motiviertes Experiment, das nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen geführt wird. Andreas Heinecke, studierter Historiker, Literaturwissenschaftler und Philosoph, heute 64 Jahre alt, hat es vor dreißig Jahren erfunden. Er ist das, was man einen „Social Entrepreneur“ nennt und dafür vielfach international ausgezeichnet. Er war und ist der Pionier des sozialen Unternehmertums in Deutschland. Es geht ihm um soziales Lernen, um einen Perspektivenwechsel: „Nur wer die Welt mit anderen Augen sieht“, sagt er, „kann sich in ihr zurechtfinden – und dabei Neues entdecken“. Zunächst betrieb Heinecke den „Dialog im Dunkeln“ unter dem organisatorischen Dach einer Blindenanstalt, die er von vier auf 35 Mitarbeiter ausbaute. 1995 wurde ihm der Rahmen zu eng, er machte sich selbständig.

Lehrstunde in Demut

Es gibt heute einige solcher Sozialunternehmer, und sie beschäftigen Menschen, die in der Gesellschaft am Rande stehen, geben ihnen Arbeit, rücken sie in die Mitte. Durch die Corona-Krise sind nun all diese Projekte in ihrer Existenz bedroht. Allein im Dialoghaus in Hamburg, in einer gemeinnützigen GmbH, sind das 132 Leute. Zusätzlich zur Ausstellung gibt es Seminare und Workshops, in denen Führungskräfte aus der Wirtschaft mit der absoluten Dunkelheit konfrontiert werden; sie können auch ein „Dinner in the Dark“ buchen. Für manch einen wird das zu einer Lehrstunde in Demut.

Transformative Erfahrung

Heineckes Idee hat sich mittlerweile weltweit verbreitet, zehn Millionen Menschen in 50 Staaten und bald 200 Städten haben sie erlebt und dabei eine wichtige Selbsterfahrung gemacht. Heinecke hat seine Idee nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich ausgeweitet: auf die Erfahrung mit Gehörlosigkeit, mit Gebrechlichkeit und Alter. „Dialog im Stillen“ heißt das dann, „Dialog mit der Zeit“ oder „Dialog mit dem Ende“. Immer geht es um den Umgang mit dem Anders-Sein, um transformative Erfahrungen. Niemand verlässt die Ausstellung so, wie er hineingegangen ist. ist.

Heinecke liefert das Konzept und die Beratung, vor Ort werden die Ausstellungen dann auf der Grundlage einer Franchising-Vereinbarung betrieben. Die Referenz-Ausstellung ist immer die in der Hamburger Speicherstadt. Über 12 000 behinderte und ältere Menschen haben Gehalt und Anerkennung bezogen. Heinecke hat bewiesen, dass man einen sozialen Zweck mit unternehmerischen Mitteln verfolgen kann – bis Corona kam. Ausgerechnet.

Ein Sozialunternehmen vor dem Aus

Jetzt bricht das soziale Unternehmen, das Solidarität gelehrt hat, zusammen. Fünf Millionen Euro braucht Heinecke jedes Jahr, um alle und Alles zu bezahlen. 230 000 Euro Fixkosten monatlich in Hamburg hat er zu stemmen, davon 180 000 für das Personal, also für die behinderten Menschen. Die Bildungs- und Beschäftigungsprogramme des Sozialunternehmens hängen nur zu einem kleinen Bruchteil an Spenden oder staatlichen Zuwendungen (nämlich den Regelleistungen, die jeder bekommt, der behinderte Menschen beschäftigt). „Dialogue Social Enterprise“ wird hauptsächlich aus Eintrittsgeldern und Franchisegebühren finanziert und aus den Honoraren, die Firmenworkshops erbringen. Der monetäre Gewinn ist in einem Social Business wie dem von Heinecke ein Mittel zum Zweck. Das heißt: Anders als in einem klassischen Konzern geht es nicht um Gewinnmaximierung, sondern um die Maximierung der sozialen Wirkung. Idealerweise macht ein Sozialunternehmen genug Gewinn, um Rücklagen zu bilden und in das Unternehmen zu reinvestieren, um es noch wirkungsvoller zu machen. So war das beim „Dialog im Dunkeln“. Bisher.

Das ist vorbei, das Unternehmen steht vor dem Aus; es kann nicht mehr finanziert werden, weil die Ausstellungen geschlossen sind. Konkurs droht. Der Sozialunternehmer Heinecke haftet auch mit seinem Privatvermögen. Wäre nun der „Dialog im Dunkeln“ ein normales, also ein staatliches Museum oder eine sonstige Bildungsstätte, bliebe der Laden zwar jetzt auch geschlossen, aber die Kosten für Personal und Miete würden bezahlt. Die Ausstellung wäre eine Kostenstelle in einem öffentlichen Etat und sobald Corona vorbei ist, würde sie die Tür wieder aufsperren.

Wäre der „Dialog im Dunkeln“ ein klassisches Unternehmen – dann könnte sich der Unternehmer als Mittelständler unter den rettenden KfW-Schirm flüchten; die Verdienstausfälle könnten partiell kompensiert werden. Ein Sozialunternehmen ist aber kein klassisches Unternehmen. Die KfW schließt bei ihren Überlegungen gemeinnützige Unternehmen aus. Und auf dem Radar von Stiftungen und Wohlfahrtsorganisationen ist so ein selbständiges Sozialunternehmen auch nicht. Es gibt keine Stiftung in Deutschland, die einen Nothilfe-Fonds für soziale Unternehmen hat.

Wie Meerschweinchen – nicht Meer, nicht Schwein

Bei Marktverwerfungen fallen Sozialunternehmen durch die Raster. Sie sind nicht mehr sozial, weil sie Mitarbeiter entlassen müssen; das Kurzarbeitergeld rettet da nichts. Sie sind keine Unternehmer mehr, das sie kaum Möglichkeiten haben, die Geschäfte wiederaufzunehmen. Da hilft auch der Galgenhumor nicht mehr weiter: „Wir sind wie Meerschweinchen“, sagt Andreas Heinecke, „nicht Meer und nicht Schwein“.

Bald gehen die Lichter an

Es wird viele erschreckende wirtschaftliche Folgen der Corona-Krise geben. Der Fall „Dialog im Dunkeln“ zeigt exemplarisch, wie es akut, ausgerechnet, Projekte trifft, die Solidarität organisiert haben. Beim „Dialog im Dunkeln“ gehen bald die Lichter an. Das ist bitter, das ist tragisch.

Ich wünsche uns, dass die Solidarität in der großen Krise erhalten bleibt – und dass der Dialog im Dunkeln wieder aus dem Dunkel herausführt. In der Ausstellung sieht man am Ende einen Spalt Licht und geht erleichtert auf diesen Spalt zu. Das wünsche ich uns auch in der Corona-Wirklichkeit: das Licht der Zuversicht.

Sehr herzlich

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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