Guten Tag,

wie lange ist das Neue neu? Es kommt darauf an. Die neue Zeitung ist schon am nächsten Tag alt. Beim neuen Pulli dauert es ein wenig länger. Beim neuen iPhone auch. Aber die neue Wohnung und das neue Haus sind auch dann noch neu, wenn das iPhone schon lang wieder alt ist. Und eine Industrieanlage ist so lange neu, bis sie steuerlich abgeschrieben ist. Vielleicht ist das ein Grund, warum die neuen Bundesländer immer noch neue Bundesländer heißen: Weil diese Bundesländer eben nicht abgeschrieben, sondern, im Rahmen der Programme „Aufbau Ost“, immer noch an den Westen der Bundesrepublik angepasst werden.

Sind die neuen Bundesländer noch immer neu?

Jedenfalls: Kaum etwas anderes auf der Welt ist so lange neu wie die neuen Bundesländer. Die Kinder, die auf die Welt kamen, als diese neuen Bundesländer die neuen Bundesländer wurden, sind heute dreißig Jahre alt. Neue Menschen sind sie nicht mehr, junge Menschen gerade noch. Das wiedervereinigte Deutschland feiert am kommenden Samstag Geburtstag – es wird dreißig Jahre alt. Und es wird bei den Feiern und in den Reden immer noch von den neuen Bundesländern die Rede sein. Aber vielleicht liegt das auch einfach daran, dass einem kein besserer Name einfällt. So lange das so ist, bleiben die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die fünf neuen Bundesländer. Vielleicht sollte die Bundeszentrale für politische Bildung ein Preisausschreiben starten, um einen besseren Namen zu finden. Sonst heißen die neuen Bundesländer auch noch zum fünfzigsten und zum hundertsten Geburtstag so.

Neu ist üblicherweise ein Wort, das Musik in sich hat. Neu ist üblicherweise gut, neu ist modern, neu ist besser als alt. Was neu ist, muss sich nicht rechtfertigen. Es ist schon gerechtfertigt, weil es eben neu ist. Wie gesagt: neu ist gut; neu ist zukunftsfähig; alt ist fragwürdig, neu ist gefragt. Alt trägt ein Fragezeichen, neu ein Ausrufezeichen: Die neue Frau! Der neue Mann! Die neue Struktur! Das neue Image! Die neue Software! Die neuen Tugenden! Das Neue gilt als modern, als fit, frisch, ungewöhnlich, unerhört, als up do date und just in time. Interessant an der Bezeichnung „neue Bundesländer“ ist daher auch, dass sich hier mit dem „neu“, jedenfalls im Westen der Republik, auch etwas Defizitäres verbindet – da muss etwas entwickelt, da muss etwas aufgebaut werden.

Horst Dieter Schlosser, Literaturwissenschaftler, Initiator und Sprecher der Aktion „Unwort des Jahres“, meint, Hauptgrund für die Zähigkeit des Wortes „neue Bundesländer“ sei unsere Bequemlichkeit: „Das ist wie mit dem Sonnenaufgang. Den nennen wir immer noch so, obwohl seit langem klar ist, dass sich die Erde nicht um die Sonne dreht.“

Ein politisches Erntedankfest

Solche Gedanken kommen mir zum kommenden Samstag, der kein normaler Samstag ist. Er ist ein Feiertag; ein schwarz-rot-goldener Festtag, ein politisches Erntedankfest: Am 3. Oktober hält Deutschland inne und feiert dreißig Jahre Deutsche Einheit.

3. Oktober: Über das Datum dieses Feiertags ist gegrummelt worden, weil es ein technisches, kein emotionales Datum sei. Das stimmt ja auch: Der 3. Oktober 1990 war der Tag des juristischen Vollzugs des schon Beschlossenen; an diesem Tag im Jahr 1990 wurde der von der Volkskammer goutierte Beitritt der DDR zum Grundgesetz rechtswirksam. Vor dem Reichstag wurde die Bundesflagge gehisst, die Nationalhymne wurde gespielt, ein Feuerwerk abgebrannt; in der Philharmonie wurden Reden gehalten. Der 3. Oktober 1990 war ein Tag der Ernte dessen, was die Menschen ein Jahr zuvor, im Oktober 1989, gesät hatten.

Falsches Datum: Der eigentliche Festtag ist nicht der 3. Oktober, sondern der 9. Oktober

Am 3. Oktober feiern wir eigentlich den 9. Oktober: der dritte Oktober hat seine Wurzeln, seinen Urgrund, am 9. Oktober 1989, in den Montagsdemonstrationen von Leipzig. Mit ein paar Tausend Demonstranten hatten die SED-Funktionäre damals gerechnet. Es wurden siebzigtausend; sie wussten nicht, so erinnert sich der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, dass sie siebzigtausend werden, sonst wären es dreihunderttausend geworden. Es war ihr Mut, mit dem alles begonnen hat: Jeder Teilnehmer hatte mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Noch im Juni 1989 hatte Erich Honecker die DDR-Volkskammer gezwungen, der chinesischen Parteiführung zu applaudieren, weil die ihre Opposition auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ massakriert hatte. Aber der 9. Oktober in der DDR blieb friedlich; also folgten weitere, noch größere Demonstrationen; an 200 Orten wurde demonstriert. So gewann die Destabilisierung des Regimes zusätzlich an Dynamik.

Aneignung der friedlichen Revolution durch die westdeutsche Elite

Die Westdeutschen haben das alles nicht so intensiv wahrgenommen, weil sie nicht dabei waren, weil die Bilder von den Montagsdemonstrationen im Westen nicht so mächtig waren wie die vom Mauerfall. Aber das alles bewirkten nicht Westdeutsche, das war noch nicht der Erfolg von Helmut Kohl. Der 9. Oktober 1989, der Sturm auf die deutsche Bastille, war eine ostdeutsche Angelegenheit, nicht gelenkt und geleitet aus dem Westen. Diese Lenkung und Leitung kamen erst später, als die Einheit so organisiert wurde, wie sie organisiert wurde – mittels Vertrag und Beitritt. Dafür, für die Organisation, für die Lenkung und Leitung der Deutschen Einheit, steht der 3. Oktober; dieses Datum 3. Oktober steht auch für die Aneignung der Revolution durch die westdeutsche Elite. Aber der Kern des 3. Oktober 1990 bleibt der 9. Oktober 1989. Er ist der Tag des deutschen Wunders.

Vom revolutionären Zaubertrank zum völkischen Gebräu

Dreißig Jahre Revolutionsgeschichte: Das ist eine Geschichte, die mit den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche beginnt und die hoffentlich nicht mit den „Wir-sind-das-Volk“-Rufen von Pegida und der AfD endet. Aus dem revolutionären Zaubertrank von 1989/1990 ist 2020 völkisches Gebräu geworden, mit Rassismus als Geschmacksnote. Es findet viel Absatz, die AfD preist es an. Zu beklagen ist die Pervertierung des revolutionären Wandels in ein reaktionäres Gewerk, das aber auf nicht wenige Bürger anziehend wirkt.

Deutsche Mondlandungen

Das deutsche Wunder: Es gab wenige solche Tage in der deutschen Geschichte. Da ist die demokratische Revolution von 1848 und da ist die demokratische Revolution von 1989 – ich bezeichne sie gern als deutsche Mondlandungen. Es waren spektakuläre Leistungen, die wenig nutzbar gemacht wurden für die Demokratie. Das Einmalige der Revolution von 1989 war dies: Die einen haben niemanden aufgehängt, die anderen haben nicht geschossen. Und Egon Krenz, der Nachfolger von Honecker, erfüllte nicht die in ihn gesetzten Befürchtungen. Auch das gilt es am Einheitstag zu würdigen. Man darf in die Feiern auch die einbeziehen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht geschossen haben. Es ist zu oft geschossen worden in Deutschland. Freuen wir uns darüber, dass das am Wendetag der jüngeren deutschen Geschichte nicht geschah.

Freuen wir uns über den dreißigsten Geburtstag des wiedervereinigten Deutschlands. Hoffen wir auf das vereinte Europa.

Ihr

Heribert Prantl

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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