Ganz vorne stehen und unbequem sein: So soll der Bundespräsident sein. Deutschland wählt am kommenden Sonntag seinen Staatsheiligen.

Von Heribert Prant

In einer Woche, am kommenden Sonntag, wird er gewählt: Er soll die Fehler der Menschen kennen, aber selbst möglichst keine haben. Er soll eine Art Staatsheiliger sein. So etwa stellt man sich hierzulande den Bundespräsidenten vor. Die Verfassungsrechtler beschreiben ihn so: Er soll den Bedarf nach einer Person befriedigen, „auf die sich in guten wie in schlechten Zeiten die Blicke richten können“. Der Bundespräsident soll klug reagieren, „wenn es im Raum des Politischen Abirrungen und Fehlentwicklungen gibt“. So wünscht es sich das „Handbuch des Staatsrechts“ im dritten Band.

Der Mann, der dies können soll, heißt seit fünf Jahren Frank-Walter Steinmeier. Am kommenden Sonntag wird er für weitere fünf Jahre zum Staatsoberhaupt gewählt werden. Er ist der Kandidat „Weiter so“. Das hat ihm, trotz der sehr klugen und feinen geschichtspolitischen Reden, die er gehalten hat, abschätzige Kommentare eingetragen.

Warum? Weil er aus der Berlin-Blase kommt und weil man ihn weiter dazurechnet. Man traut ihm deshalb nicht zu, dass er die Abirrungen und Fehlentwicklungen „im Raum des Politischen“ wirklich erkennt und ihnen gegensteuert, wenn es die Abirrungen und Fehlentwicklungen des Berliner Politikbetriebs sind. Ja, es stimmt schon: Es ist schwer, sich von der Wolle abzusetzen und von ihr abzustechen, wenn man in ihr gefärbt worden ist.

Es ist daher eine schöne, aber verrückte Vorstellung, es könnte ein Kandidat wie Gerhard Trabert Staatsoberhaupt werden. Er ist der Kandidat „Ganz anders“. Trabert ist ein sehr engagierter Sozialmediziner, er ist einer, der von prekären Lebensverhältnissen nicht redet, sondern den Menschen Beistand leistet, die in solchen Lebensverhältnissen leben müssen. Er ist ein Arzt, der für Obdachlose arbeitet; er wurde von den Linken nominiert und ist völlig chancenlos. Aber es ist eine prickelnde Vorstellung, „ganz oben“ einen Mann zu haben, der das „Ganz unten“ kennt. Und es ist eine anrührende Hoffnung, dass ein Mann, der zwar den politischen Betrieb nicht kennt, aber dafür das Leben in seinen Abgründen, diesem Betrieb als Staatsoberhaupt Impulse geben könnte. Es gibt ja nicht wenige Menschen, die zwar nicht obdachlos sind, die sich aber in diesem Staat obdachlos fühlen.

Ein Gegentyp

Muss man von außerhalb des politischen Betriebs kommen, um diesem Betrieb Impulse gegeben zu können? Man muss nicht unbedingt. Richard von Weizsäcker, Bundespräsident von 1984 bis 1994, ist das Beispiel dafür. Er gilt bis heute als das Idealbild eines Bundespräsidenten, als ein Präsidenten-Präsident. Er war, auch das machte und macht seinen Ruf aus, von Herkommen und Habitus, von Attitüde und Artikulation, der Gegentyp zu Helmut Kohl, der damals von den besseren Kreisen und den Feuilletons als Kleinbürger denunziert wurde. Wo Kohl als biederer Pfälzer erschien, war Weizsäcker Weltmann und Weltgeist. Er verkörperte, so sahen es die meisten Deutschen damals, das, was Kohl versprochen hatte: die geistig-moralische Erneuerung. Da wurde ein ungewöhnlicher Mann idealisiert, da überdeckte die Verehrung dieses schwäbisch-preußischen Edelmanns, dass dieser Bundespräsident auch ein Politiker mit Biss und Machtinstinkt war.

Schöner hat kaum einer das Obrigkeitsgerede zerbröselt

Steinmeier ist kein Gegentyp zu Olaf Scholz. Er war auch kein Gegentyp zu Angela Merkel. Er ist einer, der sich, wie Scholz und Merkel auch, mit Emotion und Empathie schwertut. Und es ist ihm bisher, anders als einst einem Weizsäcker oder einem Gustav Heinemann, nicht richtig gelungen, sich in die Herzen der Menschen zu reden. Manchmal waren es gar keine Reden, sondern kleine, bezeichnende Bemerkungen, die von den großen Vorgängern Steinmeiers geblieben sind. Heinemanns Antwort auf die Interview-Frage, ob er seinen Staat liebe, war so eine Bemerkung. „Ach was“, hat er gesagt, „ich liebe keinen Staat, ich liebe meine Frau“. Schöner hat auch keine große Rede das deutsche Obrigkeitsdenken zerbröselt. Und von Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten, bleibt gewiss der wunderbar trockene Satz, mit dem er sich 1958, nach dem Besuch eines Manövers, von den Soldaten verabschiedete: „Nun siegt mal schön!“

Ganz vorne stehen und unbequem sein

Weizsäcker war kein politischer Zeitgeistsurfer, das machte ihn aus; er war unbequem für den politischen Betrieb, aus dem stammte. Er hat sehr früh laut und gegen den Widerspruch seiner Partei über die Begnadigung ehemaliger RAF-Terroristen nachgedacht und solche Gnade dann auch selbst praktiziert. Er hat, in der Debatte über die Änderung des Grundrechts auf Asyl, dafür geworben, Quoten und Kontingente für Einwanderer zu schaffen – vergeblich. Und er meldete sich mit massiver Kritik am Zustand der Parteien zur Wort und warf der „Politikerschicht“ insgesamt vor, sie erliege einer „Machtversessenheit in Bezug auf Wahlkampferfolge“. Weizsäcker attackierte seine Politikerkollegen als Generalisten mit dem Spezialwissen, den politischen Gegner fertigzumachen.

Helmut Kohl soll das damals mit der Bemerkung quittiert haben, dass da einer die Hand beiße, die ihn gefüttert habe. Aber vielleicht gehört das zur Beschreibung eines guten Bundespräsidenten: Ab und zu muss er zubeißen. Womöglich lernt das Frank-Walter Steinmeier noch in seiner zweiten Amtszeit.

 


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