Guten Tag,

es gibt unendlich viele Weihnachtsbücher mit Weihnachtsgeschichten und Weihnachtsliedern, viele schön kitschig, manche schön bissig. Es gibt prächtige Bildbände mit Krippen aus aller Welt, wahre Kostbarkeiten, die man mit Andacht in die Hand nimmt, so wie ganz alten Weihnachtsschmuck. Da sieht man nicht nur die klassischen Krippen aus Südtirol und aus Oberammergau, da sieht man die neapolitanischen Krippen, in denen Janitscharenkapellen spielen; da sieht man Krippen, in denen der König Herodes und die Königin von Saba ihren Auftritt haben. Sizilien, Mallorca und Malta, so lernt man da, sind wahre Krippeninseln; in diesen Krippen überschlägt sich die Phantasie; und die ist nicht immer frei von Vorurteilen und von rassistischen Klischees. Aber sie ist schön ausgepolstert mit Krippengras und Moos. Es gibt auch Mickeymaus-Krippen und Donald-Duck-Krippen, da blättere ich schnell weiter.

Der Schrecken bleibt draußen

Zu lernen ist aus den Bildbänden, in wie vielen Variationen es das Christkind gibt: in allen Farben, in allen Schattierungen. Und: Es ist eine heile Welt, die dort aufgestellt ist, in die das Unheil nicht hineinkommt. Die Apokalypse bleibt draußen.

In der Kunstgeschichte ist es ebenso: Es gibt nur wenige Bilder, auf denen der Schrecken auch in den Stall von Bethlehem reicht. Das für mich eindrucksvollste dieser Bilder hat Botticelli gemalt. Es zeigt zwar alles, was zur klassischen Krippenszenerie gehört; er gruppiert in seiner „mystischen Geburt“ die Engel und die Menschen kunstvoll zu einem großen Bild des Friedens. Wer aber genauer hinschaut, entdeckt, dass diese Szenerie „dem dämonischen Schrecken abgerungen ist“ (wie dies der Grazer Kirchenhistoriker Johannes Rauchenberger formuliert hat). Auf dem Boden im Vordergrund finden sich kleine teuflische Wesen, winden sich die Ausgeburten des Bösen, manche schon erschlagen, aber durchaus nicht alle. Das Böse ist da, auch in der heilen Welt. Botticelli hat die Wirren seiner Zeit mit ins Weihnachtsbild gesetzt. Oberitalien lag um 1500 im Chaos.

Dämonen am Feuer

Es ist schade, dass die Ikonografie die dämonischen Wesen nicht auch zu Krippenfiguren gemacht hat; es ist schade, dass nur die Hirten, nicht aber auch die Dämonen am Feuer sitzen. So ist es nämlich in der Realität – am Feuer der jeweiligen frohen Botschaft wärmen sich auch die Fundamentalisten jeder Religion. Sie sind es, die ihren Anhängern die Welt als wohlgeordnetes Ganzes präsentieren, in dem jeder nur am vorgegebenen Platz stehen muss, auf dass alles stimmt. Der Fundamentalismus inszeniert die Welt als heimatliche Idylle, die er gegebenenfalls gewaltsam herstellt. Er nutzt die menschliche Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit.

Sehnsucht nach Geborgenheit

Im Corona-Jahr ist diese Sehnsucht besonders groß. Die Angst vor dem Virus hat zwar in den allermeisten Krippen keine Figur, in der sie zum Ausdruck kommt. Nur im Museum „Religio“ in Telgte, das für seine Krippenausstellungen bekannt ist, sind, digital jetzt, mehrere Krippen zu sehen, in denen das Virus Platz hat. Da gibt es Krippen, die Corona ironisch verarbeiten wie die, in der die Heiligen Drei Könige mit Mundschutz kommen und Desinfektionsmittel, Kartoffeln und Klopapier bringen; und da gibt es nachdenklich machende Krippen wie die von Franz-Josef Hartmeyer, der das krakenartige Coronavirus-Modell selbst zur Krippe macht. Das Christkind liegt im Innern des Virus. Aber der Lockdown rückt auch den klassischen Krippen ganz nahe. Sie und der Weihnachtsbaum sind wohl das Einzige, was vom gewohnten Fest übrigbleibt. Selbst das Singen, das gemeinsame Singen, das zu Weihnachten so gehört wie die Krippe und der Baum, ist suspekt geworden. Es ist nicht verboten, aber bemakelt – es gilt als gefährlich, jedenfalls wenn viele singen, in und vor den Kirchen zum Beispiel. Die Angst vor dem Singen ist so groß, dass sogar kritisiert wird, wenn am Heiligabend auf Abstand mit Mundschutz gesungen wird.

Wer klopfet an?

Mit Wehmut habe ich deshalb aus meiner Weihnachtskiste ein Buch ausgepackt, das mir von allen Weihnachtsbüchern das liebste ist. Es macht äußerlich gar nichts her. Es ist auch eigentlich gar kein Buch; es handelt sich um zusammenkopierte, gelochte Blätter mit Weihnachtsliedern in einer Plastikmappe. Der Titel „Wer klopfet an?“ Aber der Untertitel zeugt durchaus von einem gewissen Anspruch: „Weihnachtsliederbuch der SZ-Innenpolitik“ – darin versammelt 46 Weihnachtslieder, eingeteilt in die Kapitel „Pflicht“ und „Kür“. Die Pflicht-Lieder beginnen mit der Nummer 1 „Herbei o ihr Gläubigen“ (gesungen wurde es auf Lateinisch, also Adeste, fideles) und sie enden mit Nummer 39 „Stille Nacht“; die Kür beginnt mit Nummer 40 „Singet frisch und wohlgemut“ und endet mit Nummer 46 „The first Nowell“.

Weihnachtssingen in der SZ

So lange ich denken kann, wurden und werden die Lieder auf dem Klavier von Hermann Unterstöger, dem wunderbaren Streiflicht-Redakteur, begleitet. Das Klavier stand im Büro des Ressortchefs der Innenpolitik; das war schon so, als ich vor 33 Jahren in dieser Redaktion ankam. Und gespielt wurde darauf eigentlich nur an Weihnachten, genauer gesagt am letzten Arbeitstag vor Weihnachten, nach Redaktionsschluss, ab 17 Uhr, wenn die Zeitung einigermaßen „fertig“ war und die Kolleginnen und Kollegen der Innenpolitik zum traditionellen Weihnachtssingen und zum Würstlessen (in der Pause zwischen Pflicht und Kür) zusammenkamen. In diesem Jahr pausiert die Tradition.

Das Klavier überlebte den Umzug von der Sendlinger Straße in den SZ-Turm an der Hultschiner Straße; aber dann war es, wie die Fachleute sagten, „ausgestimmt“ und wurde zum weihnachtlichen Singen von einem Keyboard ersetzt. Der in Redaktionsräumen ungewohnten, anfänglich stets ein wenig verlegenen Feierlichkeit tat das keinen Abbruch. In meinen ersten Jahren bei der SZ war das „Weihnachtsliedersingen“ eine kleine Veranstaltung, da saßen ein Dutzend Redakteurinnen und Redakteure um den Tisch des Ressortleiters, später kamen dann auch deren Kinder hinzu, hatten ihre Musikinstrumente dabei und spielten bei den bekannten Weihnachtsliedern mit. Die eher unbekannten Lieder haben sie dort gelernt.

46 Lieder

Es gab Zeiten in meiner innenpolitischen Redaktion, da wurden die 46 im „Weihnachtsliederbuch“ versammelten Lieder fast allesamt gesungen, nicht unbedingt alle Strophen, aber dafür ein Lied bisweilen zweimal, in jeweils verschiedener Besetzung – nämlich das Lied von der Herbergssuche, das mit dem Satz beginnt, das dem Heft den Namen gibt: „Wer klopfet an?“

Diese „Herbergssuche“ ist ein Lied, das in verteilten Rollen gesungen wird. Da braucht man einen möglichst bösen Wirt, des weiteren Maria und Josef, die im Duett singen. Die Rolle des bösen Wirts war beliebt: der unvergessene, 2003 verstorbene Herbert Riehl-Heyse hat sie damals, als ich noch ziemlich neu war in der Redaktion, gern gesungen; auch Michael Stiller, der schon investigativer Journalist war, als diese Bezeichnung noch nicht gebräuchlich war, hat den Wirt trefflich und mit dröhnendem Bass gemimt. Zuletzt war es der damalige Newsdesk-Chef, der sehr energisch das heilige Paar abwies: „Ei macht mir kein Ungestüm! Da, packt euch, geht wo anders hin!“

Mein Wunsch zum gesangsreduzierten Weihnachtfest des Jahres 2020: das Virus möge sich packen, möglichst schnell, und endgültig verschwinden. Und wenn es so weit ist, wird das „O du fröhliche“ besonders fröhlich sein.

Das wünscht sich und uns allen

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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