Bundeskanzler Scholz hat gezeigt, wo der Hammer hängt, und ihn auf schonende Weise eingesetzt. Es war sein Gesellenstück – nicht mit dem Vorschlaghammer, sondern mit dem Werkstatthammer.

Von Heribert Prantl

Das Grundgesetz ist nicht nur eine Baubeschreibung, es ist auch ein Werkzeugkasten. Es enthält die Instrumente, die man braucht, um das Haus Bundesrepublik zu bauen, zu erhalten und zu renovieren. Zu diesen Instrumenten zählt der Artikel 65, der von der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers handelt. Es ist dies ein Artikel, der zeigt, wo der Hammer hängt und wer ihn benutzen darf. Bundeskanzler Olaf Scholz hat ihn zu Beginn der vergangenen Woche eingesetzt, um seine Ampel zu befestigen.

Es steht in diesem Artikel 65 nicht, wann, wie, wie oft und zu welchem Zweck der Regierungschef zum Hammer greifen darf oder soll. Seitdem er es aber nun getan hat, wird diskutiert und analysiert, welche Folgen der Einsatz haben wird. War es nun ein Zeichen der Stärke oder der Schwäche von Scholz, dass er zum Hammer griff? Es fällt bei vielen dieser Überlegungen auf, dass der Hammer für ein eher primitives Instrument gehalten wird – für eine Fortentwicklung des Faustkeils quasi, was ja menschheitsgeschichtlich auch stimmt.

Aber diese Retro-Primitivierung wird dem Variantenreichtum dieses Werkzeugs nicht gerecht: Es gibt ja nicht nur den schweren Vorschlaghammer oder den Schlosserhammer, wie er zum Einschlagen von Nägeln verwendet wird. Es gibt auch den Gummihammer zum Festklopfen von Gegenständen. Und es gibt den Schonhammer, auch Werkstatthammer genannt, dessen Köpfe aus Kunststoff sind, und der dazu dient, empfindliche Bauteile zu positionieren oder festoxidierte Bauteile zu lösen. Genau darum ging es bei der Entscheidung des Kanzlers, die Laufzeit von drei Atommeilern bis Mitte April 2023 zu verlängern.

Griff der Kanzler zu früh zu diesem Mittel? Oder zu spät?

Scholz hat nicht einfach nur theatralisch auf den Tisch gehauen. Er hat den Schonhammer eingesetzt und damit die festoxidierten Positionen in seiner Koalition gesichtswahrend für die Beteiligten gelöst. Jeder der Beteiligten hat sogleich erklärt, dass er mit dieser Art der Ausübung der Richtlinienkompetenz nun erst einmal leben könne. Mehr war fürs Erste nicht notwendig. Und mehr war fürs Erste nicht drin. Vielleicht war Scholz‘ überformalistische Intervention sogar von Robert Habeck und Christian Lindner gewünscht, damit sie auf einigermaßen schonende Weise ihre ineinander verhakten Geweihe lösen können; denn sie fingen nach der Niedersachsenwahl an, behämmert auszusehen. Es war das Ampel-Gesellenstück von Kanzler Scholz. Das Meisterstück wird er noch liefern müssen.

Die einen haben Scholz vorgeworfen, dass sein Machtwort zu früh, die anderen, dass es zu spät gekommen sie, die nächsten monierten, dass es überhaupt eingesetzt worden sei. Es wurde auf seine Vorgängerin Merkel hingewiesen, die so sparsam mit Machtworten gewesen sei. Angela Merkel ist allerdings seinerzeit auch in Zigtausenden Kommentaren vorgehalten worden, dass sie nicht tue, was eine Kanzlerin und ein Kanzler tun müsse: Sie führe nicht, sondern lasse die Dinge treiben. Immer und immer wieder ist sie in diesem Zusammenhang für angebliche Arbeitsverweigerung kritisiert worden.

Machtwortähnliches hat Merkel nach dem Reaktorunglück von Fukushima in der Atompolitik gesprochen und dann auch in der Flüchtlingskrise; es gab das Wort nicht schriftlich, wie jetzt bei Scholz, aber einigermaßen deutlich in der Ansage. Schriftlich formuliert hat sie ihr Machtwort nur, als sie die Staatsanwaltschaft ermächtigte, gegen den Satiriker Böhmermann wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan zu ermitteln. Sonst hat Merkel sich lieber auf Tina berufen, das ist das Kürzel für there is no alternative – und mit diesem Wort auch das Parlament möglichst weit und möglichst lang weggeschoben, etwa bei den Milliardenrettungspaketen für den Euro. „Tina“ war ihr Wort für „Basta“. Mit „Basta“ hatte Kanzler Gerhard Schröder Hartz IV eingeführt. Und dieses Hartz IV war damals für die Führung der SPD so „alternativlos“ wie der Kosovo-Krieg und die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch.

Adenauers Vorschlaghammer

Es ist nicht so, dass Olaf Scholz als neunter Bundeskanzler der Bundesrepublik der erste ist, der einen Richterlinienkompetenz-Brief schreibt. Bei Konrad Adenauer, dem Gründungskanzler der Bundesrepublik, waren solche Briefe gang und gäbe. Es waren Briefe wie dieser, an den Wirtschaftsminister Ludwig Erhard vom 5. Mai 1951: „Sehr geehrter Herr Erhard! Wie ich sehe, werden Sie im Fraktionsvorstand Erklärungen über Ihre Wirtschaftspolitik abgeben, und zwar am nächsten Montag abends 19 Uhr. Ich ersuche Sie mir vorher mitzuteilen, welche Erklärungen Sie dort abgeben werden. Es ist unmöglich, da Wirtschafts- und Finanzpolitik miteinander zusammenhängen, dass der Wirtschaftsminister allein solche Erklärungen abgibt. Ich bitte Sie, auch dessen eingedenk zu sei, dass die Richtlinien der Politik durch den Bundeskanzler bestimmt werden. Mit freundlichen Grüßen (Adenauer)“.

Das war nicht der Schonhammer, das war eher ein Vorschlaghammer. Knapp zwei Monate vorher hatte Adenauer seinen Wirtschaftsminister Erhard schon einmal schriftlich gemaßregelt: „Ihr ganzes Verhalten ist unmöglich. Ich muss Ihnen mein ernstes Befremden aussprechen. Sie verkennen völlig das Wesen einer Bundesregierung.“

Ludwig Erhard ritt dann als Nachfolger Adenauers in der Kanzlerschaft sehr viel weniger auf seiner Richtlinienkompetenz herum. Fast im Alleingang nahm er zwar Verhandlungen über die diplomatischen Beziehungen zu Israel auf; es war aber das einzige Mal, dass er von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machte. Und ausgerechnet mit Kurt Georg Kiesinger, dem dritten Bundeskanzler, für den seine Partei, die CDU, im Wahlkampf mit dem Spruch „Auf den Kanzler kommt es an“ geworben hatte, begann eine Entwicklung weg von der Kanzler- und Richtliniendemokratie hin zu einer Koalitionsdemokratie.

Von der Kanzler- zur Koalitionsdemokratie

Kiesinger, der Kanzler der ersten Großen Koalition, galt als wandelnder Vermittlungsausschuss – und er war es auch. In großen Koalitionen war auch später, unter Merkel, das Machtwort kein erfolgversprechender Regierungsstil. Und Helmut Schmidt sagte am Ende seiner Amtszeit, er habe in den mehr als acht Jahren von der Richtlinienkompetenz keinen Gebrauch gemacht: „Ich habe es immer als meine Pflicht angesehen, große Anstrengungen auf das Zustandebringen von vernünftigen, praktisch brauchbaren, beiden Seiten gleichermaßen zumutbaren Kompromissen zu verwenden.“

Und über den Regierungsstil Helmut Kohls sagte Angela Merkel einmal, sie habe ihn in ihrer Zeit als Ministerin in seinem Kabinett das Wort Richtlinienkompetenz nie aussprechen hören. Und der kurzzeitige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck ergänzte: „Da reichte es auch, wenn er in den Raum reinkam.“

Das also ist die Geschichte der Richtlinienkompetenz und des Artikels 65 Grundgesetz. Das ist die Geschichte vom Werkzeugkasten und der Hämmer, die dort liegen. Für den einen Kanzler, den ersten, war er ständiges Regierungsinstrument; und der Hammer, den er nutzte, war hart. Für andere war er ein Werkzeug, das sie selten oder gar nicht nutzten. Es reichte das Wissen, wo der Hammer hängt. Der Kanzler Schröder zeigte gern und mit großer Geste dahin, wo er hängt. Es war und ist dies eine Frage des Temperaments und der Persönlichkeit des Regierungschefs, es war und ist dies auch eine Frage der Konstellation, in der er regiert. Scholz hat den Hammer mit Bedacht eingesetzt und ohne Getöse. Und seinen Koalitionspartnern war es ganz recht so. Scholzens Hammer ist der Werkstatthammer. Man nennt ihn auch Schonhammer.

 


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